Willkommen auf meiner Website
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Am 18. Mai 1848 trat in Frankfurt zum ersten Mal die

deutsche Nationalver-sammlung zusammen.

Es war die Geburtsstunde der deutschen Demokratie. Sie überlebte nur etwas mehr als ein Jahr bis zur Kapitulation der Freiheitskämpfer in der badischen Festung Rastatt vor den preußischen Truppen am 23. Juli 1849.

1933 hat »der Nationalsozialismus in der Demokratie mit der Demokratie die Demokratie besiegt.« So Hitler im Originalton.

Heute im Jahr 2023 ist die Demokratie in Deutschland und vielen anderen Staaten der Welt wieder bedroht und von populistischen Ideologien durchsetzt oder hat sich bereits hin zu illiberalen, autokratisch-populistischen und faschistischen Staatsformen entwickelt. Es lohnt sich also, genauer hinzusehen und deren Charakteristika herauszu- arbeiten.

Es ist Zeit die Demokratie neu mit Leben zu füllen.

 

Leserempfehlung: DEMOKRATIE LEBEN!

"...Geradezu eine Pflichtlektüre für politische Bildung in der aktuellen Situation." (Herbert Kramm-Abendroth)

 

 

Das Buch öffnet die Augen für das, was wichtig ist im Leben.
"Wenn wir Neues schaffen wollen, müssen wir uns von dem bloß passiv-betrachtenden Denken, dem Zukunft fremd ist, lösen. Wir müssen den Willen zum Verändern der Welt,in der wir leben aufbringen und den Mut haben, unser Wissen und Denken auf die noch ungewordene Zukunft ausrichten."
(aus: GUTES LEBEN, S. 330)

 

Spannender histori-scher, biografischer Roman über Olympe de Gouges: Warum nicht die Wahrheit sagen.

»Ich bin eine Frau. Ich fürchte den Tod und eure Marter. Aber ich habe kein Schuld-bekenntnis zu machen. Ist nicht die Meinungs-freiheit dem Menschen als wertvollstes Erbe geweiht?«

So verteidigte sich Olympe de Gouges vor dem Revolutionstribunal in Paris. Eine kompromisslose Humanistin, eine sinnliche, lebenslustigeund mutige 

Frau, die der Wahrheit unter Lebensgefahr zum Recht verhelfen will und als erste Frau in der Geschich-te  auch für das weibliche Geschlecht die Bürger-rechte einfordert. Die Zeit vor und während der Französischen Revolution gewinnt in dieser historisch-authentischen Gestalt Lebendigkeit und atmosphärische Dichte.

 

Piano Grande
Ein Roman über die Liebe in Zeiten der Krise.

Der Roman Piano Grande

zeichnet ein eindringliches Porträt des ersten Jahr-zehnt dieses Jahrhunderts, in dem die Finanz- und Wirtschaftskrise die Welt an den Rand des Abgrunds brachte.

Der Roman wirft auf dem Hintergrund einer großen Liebesgeschichte "einen sezierenden Blick auf die Gesellschaft und ihre Eliten..., die die Welt im Jahr 2008 in eine wirtschaftliche Kata-strophe geführt haben ..." (Wetterauer Zeitung)

 

Als vertiefende Ergänzung zu dieser Wirtschafts- und Finanzkrise empfehle ich Ihnen meinen Essay: Demokratischer Marktsozialismus. Ansätze zu einer bedürnisorientierten sozialen Ökonomie.

 

(Käthe Kollwitz)

 

Was ist das für ein demo-kratisches System, das unfähig ist, den Mord-versuch vom 6. Januar 2021 an ihrer Demokratie zu ahnden?

Unter Nice-to-now habe ich für Sie Ausschnitte aus der Rede von Trump zur Wahl und den Sturm auf das Kapitol zusammen-gestellt.

 

Besuchen Sie auch meine Autorenseite Henning Schramm  auf Facebook. Ich würde mich freuen, wenn sie Ihnen gefällt.

 

Ich möchte mich auch über das rege Interesse an meiner Homepage mit über 400.000

Besucherinnen und Besuchern bedanken.

Glauben, Mythos, Christentum

Das Ende der Hegemonie der christlichen Kirche

Henning Schramm

 

Das Bewusstsein hat sich in der Evolution durchgesetzt, weil es die Überlebenschancen der damit ausgerüsteten Lebewesen nennenswert verbesserte. Nach einer Definition von Damasio ist »Bewusstsein ein Geisteszustand, in dem man Kenntnis von der eigenen Existenz und der Existenz einer Umgebung hat.«[1] Dem Menschen verschaffte es offensichtlich Vorteile für das Lebensmanagement, Kenntnisse über die Umwelt ansammeln zu können, mit deren Hilfe er seine Reaktionen auf Umweltbedingungen optimieren konnte.

Bewusstsein heißt Kenntnis vom Selbst und kündet von der eigenen Existenz aber eben auch von der möglichen Nicht-Existenz des Selbst, von einem Anfang und einem Ende dieses Selbst. Man darf deshalb vermuten, dass sich schon der frühgeschichtliche Mensch über Geburt und Tod, über die Anfänge seines Daseins auf der Welt und das, was nach seiner physischen Existenz mit ihm geschieht, Gedanken gemacht hat. Er versuchte zu verstehen, was um ihn herum in der Natur geschah, versuchte sich astronomisches und meteorologisches Wissen anzueignen. Er suchte Erklärungen für Tag und Nacht, die Erscheinung der Sterne, für Blitz und Donner und Regen und Wind. Der erste Satz von Aristoteles‘ Metaphysik heißt: »Alle Menschen verlangen nach Wissen.« Die Ursprünge der Philosophie sind nach Aristoteles in der Verwunderung über die Natur und in dem Verlangen nach Erklärungen für die Natur zu suchen. So haben sie begonnen, zu philosophieren. Philosophieren im Sinne von: das Unerklärliche erforschen und darüber nachdenken, warum etwas geschieht, das Gegebene auf seine Ursachen, seinen Ursprung hin untersuchen und es nicht einfach hinnehmen.

Der frühe Mensch suchte also Erklärungen für Phänomene, für die er auf Grund seines begrenzten Wissens keine offensichtliche Erklärung fand. Und mit Sicherheit hatte der frühgeschichtliche Mensch große Ehrfurcht und Respekt vor der Natur, in die er eingebunden war, und vor den Naturgewalten, denen er mehr oder weniger ohnmächtig ausgeliefert war, die unmittelbar sein Leben bedrohen konnten und seinen Lebensrhythmus bestimmten. Bei dieser Ausgangslage musste dem Frühmenschen der Gedanke durchaus plausibel erscheinen, dass die ihn umgebende Natur von einer übernatürlichen Kraft geschaffen wurde, dass alles Geschehen auf der Erde weise gelenkt werde, und dass es einen tieferen Grund für dieses Geschehen gebe. Belebte und unbelebte Dinge und Erscheinungen waren danach sinnvoll und harmonisch geordnet und bargen Kräfte in sich, die sowohl der Natur als auch der Existenz des Menschen – als einem Teil der Natur – einen tieferen Sinn gaben.

Die Kausalität (Kant) hinter diesen Erscheinungen blieb der sinnlichen Wahrnehmung verborgen. Um diese schicksalhaften, treibenden Kräfte, denen man schutzlos gegenüber stand, zu kanalisieren und auf sie einwirken zu können, tat der Mensch, was seinem reflexiven Bewusstsein adäquat war. Er begann, sie in sein menschliches Alltagsgeschehen zu integrieren und benannte und personifizierte die unbekannten Schicksals- und Naturmächte. Er schuf sich Gottheiten und Gottwelten nach seinem Ebenbild, zu denen man eine Beziehung aufbauen, die man positiv stimmen konnte und potenzielle Bündnispartner waren – die man sich aber auch zum Feind machen konnte. Sobald die Schicksalsmächte aus dem Dunkel des Unbenenn- und Unberechenbaren einmal herausgehoben waren, Bewusstheit erlangten und geistiges Eigentum des Menschen wurden, sobald sie also gemäß dem Erkenntnisapparat des Menschen in Begriffen und Bildern fassbar und sinnlich fühl- und wahrnehmbar wurden, waren sie auch Teil der Wirklichkeit des Menschen. Die Götter bildeten eine eigene geistige Erfahrungswelt, über die der Mensch reflektieren und philosophieren‹ konnte – und er war in der Lage, zu den Schicksalsmächten Kontakt aufzunehmen, in der Hoffnung, auf zukünftige Entwicklungen Einfluss nehmen zu können und das Schicksalhafte steuerbar zu machen.

Götter sind Ideen, gleichsam Gestalten des bewussten Geistes (Tugenden, Sitte, sittliche Ansprüche, Ethik). So symbolisiert sich etwa die Idee (Idea (griechisch) = Bild) des Rechts bei den Griechen in der Gestalt der Göttin Dike, die Recht in Gerechtigkeit umsetzt. Die Schönheit, die sich in der Geisteshaltung des Erhabenen ausdrückt, nimmt in der Göttin Aphrodite Gestalt an.

Kant hat in seiner Kritik der reinen Vernunft die Entstehung der Idee Gottes mit der Beschaffenheit der menschlichen Vernunft verknüpft: »Man sieht Dinge sich verändern, entstehen und vergehen; sie müssen also, oder wenigstens ihr Zustand, eine Ursache haben. Von jeder aber … lässt sich eben dieses wieder fragen. Wohin sollen wir nun die oberste Causalität billiger verlegen als dahin, wo auch die höchste Causalität ist … Diese höchste Ursache halten wir denn für schlechthin nothwendig … Daher sehen wir bei allen Völkern durch die blindeste Vielgötterei doch einige Funken des Monotheismus durchschimmern, wozu nicht Nachdenken und tiefe Speculation, sondern nur ein nach und nach verständlich gewordener natürlicher Gang des gemeinen Verstandes geführt hat.«[2] 

An anderer Stelle bemerkt Kant: »Zuerst überzeugt sie [die Vernunft, HS] sich vom Dasein irgendeines nothwendigen Wesens. In diesem erkennt sie eine unbedingte Existenz. Nun sucht sie den Begriff des Unabhängigen von aller Bedingung und findet sie […] in demjenigen, was alle Realität enthält. Das All aber ohne Schranken ist absolute Einheit und führt den Begriff eines einigen, nämlich des höchsten Wesens bei sich; und so schließt sie, dass das höchste Wesen als Urgrund aller Dinge schlechthin nothwendiger Weise da sei.«[3]

 Nicht Gott schuf den Menschen nach seinem Ebenbild, sondern umgekehrt, der Mensch schuf sich Götter und Gott nach seinem Ebenbild und des ihm von der Evolution zur Verfügung gestellten Erkenntnis- und Denkapparats. Von reinen Begriffen darf aber nicht auf die Existenz der realen Dinge geschlossen werden (Kant). Das heißt, von dem Begriff, von der spekulativen Idee Gottes, kann nicht die Existenz Gottes abgeleitet werden. Aber auch auf der sinnlichen Erfahrungsebene des Weltgeschehens und der Wahrnehmung der Welt kann der Beweis der Existenz Gottes nicht gelingen, da er letztendlich wiederum auf transzendenten Begrifflichkeiten zurückgreifen muss, wie das Kant in seinen berühmten Beweisführungen zur Existenz beziehungsweise Nichtexistenz Gottes aufgezeigt hat[4]. »Das höchste Wesen bleibt also für den bloß speculativen Gebrauch der Vernunft ein bloßes, aber doch fehlerfreies Ideal, ein Begriff, welcher die ganze menschliche Erkenntnis schließt und krönt, dessen objektive Realität auf diesem Wege zwar nicht bewiesen, aber auch nicht widerlegt werden kann«, so die Schlussfolgerung Kants[5].

Ziel jedes Aberglaubens oder Glaubens, jedes Zaubers, jeder Magie und Geisterbeschwörung ist im tiefsten Kern die Bewältigung der Angst vor dem unberechenbaren Schicksal und der Versuch der Einflussnahme auf die bedrohlichen zukünftigen schicksalhaften Entwicklungen. »Die Geschichte gesellschaftlicher Organisationsformen kann auch als Geschichte des Kampfes gegen das Schicksal gelesen werden. Die Zukunft zu kennen und jede Überraschung auszuschließen, war das Motiv für die Entwicklung von Ritualen, Zauber, Magie, Wissenschaft (...) Um das unberechenbare Schicksal zu beschwichtigen, wurde getanzt, getrommelt, nachgebildet, geopfert, geschlachtet, und um das Schicksal vorherzusehen, wurde orakelt und wurden Orakel interpretiert“, so Horst Kurnitzky[6].

Auf diesem Hintergrund ergeben sich drei grundsätzliche Ausgangsszenarien für die Entstehung von Glaubenssystemen.

- Erstens sind das die Erklärungsversuche, um das Unerklärliche zu verstehen, und das Streben des Menschen, außer ihm stehende Schicksalskräfte beherrschen oder wenigsten im eigenen Sinn beeinflussen zu können. Bei diesem Szenarium generiert sich das Glaubenssystem aus der Schutzbedürftigkeit oder, negativ ausgedrückt, aus dem Ausgeliefertsein und der existenziellen Bedrohung durch die Natur, denen die Menschen durch rituelle Handlungen und Opfergaben entgegenzutreten versuchen, in der Hoffnung, die Natur und die dahinterstehenden Kräfte zu besänftigen oder in ihrem Sinne zu beeinflussen.

 - Zweitens ist das Bewusstsein der eigenen Endlichkeit und dem daraus abgeleiteten Wunsch der Verlängerung des Lebens in einem Jenseits eine wichtige Triebfeder von Jenseitsideen, von Totenkult und der Verfestigung Glaubenssystemen.

 - Drittens bewirken Glaubenssysteme über gemeinsame Erklärungs- und Deutungsmuster der Natur und des gesamten Kosmos eine Stabilisierung des Zusammenhalts der Gemeinschaft. Die Teilung gemeinsamer Überzeugungen und Werte verbindet. Je unsicherer die jeweils aktuelle Situation empfunden wird, desto größer ist die Neigung des Menschen, Gewissheit in einer Gemeinschaft zu suchen und sich der Macht eines allmächtigen Beschützers, der nichts dem Zufall oder einem ungewissen Schicksal überlässt, auszuliefern und unterzuordnen.

Zweifellos hat die teilweise beobachtbare Flucht in die Astrologie, die Sektiererei, in fundamentalistische Religionsgemeinschaften oder Esoterik ihren tieferen Grund in der fortschreitenden Auflösung und Unverbindlichkeit von Gewissheiten und unverbrüchlichen Werten in unserer Gesellschaft. Der Astrologe, der Guru oder eben ein Gott tritt als Lenker der Geschicke des Menschen an die Stelle des Zufalls und des Schicksals, das so zumindest in Grenzen lenkbar und manipulierbar erscheint und das Gewissheitspotenzial erweitert. Sogar das Glück selbst, das als positiv erlebtes zufälliges Ereignis erlebbar wird (Glück gehabt), scheint so steuerbar zu werden.

Als die in Horden lebenden Frühmenschen anfingen, sich vom reinen Instinktverhalten zu emanzipieren, und das unbewusste tierische Reiz-Reaktions-Verhaltensschemata von einem Verhalten abgelöst wurde, welches auf bewusster Entscheidung beruhte, die sich zwischen Reiz und Reaktion geschoben hat, stellte sich die Frage: wie kann der Gruppenzusammenhang gesichert und der Einzelne dieser Gemeinschaft gezwungen werden, sich an die in dieser Gemeinschaft geltenden Regeln und Normen zu halten?

Schon lange vor der Entstehung des reflexiven Selbst gab es in der Natur vormoralische, genetisch gesteuerte Verhaltensregeln wie zum Beispiel Verwandtenaltruismus und reziproker Altruismus[7]. Mit dem Entstehen von Bewusstsein und reflexivem Geist wurden die Individuen in die Lage versetzt, ihren Zustand intellektuell zu begreifen und zu interpretieren und das Zusammenleben in der Gruppe bewusst zu regeln: Wer ist zum Beispiel für was verantwortlich? Was soll erlaubt sein und was nicht? Verfeinerte säkular-soziale Konventionen zusammen mit der Entstehung von Mythen über die Wesensbestimmung und die Seinsverfassung des Menschen führten schließlich zu den Anfängen einer bewussten Ethik und Moral: Das Sozialgefüge wird über allgemeine konsensfähige ideelle Wertesysteme, die tiefergehende Vorstellungen von dem Wert des Lebens und vom Menschen an sich aufgreifen, zusammengehalten und gefestigt.

Aus dem Gemenge diskursiver Begründungszusammenhänge der Gruppenmitglieder, sozialer Konventionen und Mythen entstanden über Generationen hinweg religiöse Lehren und verbindliche Glaubenssätze, die den Menschen stabile Orientierungslinien an die Hand gaben: Was ist gut und böse? Was sind gewünschte und unerwünschte Handlungen? So wie der Bauplan des Lebens in den Nukleinsäuren als Idee des Lebendigen niedergelegt ist und das Bleibende im Prozess der Fortpflanzung und Evolution des Lebens ist, so sind im gleichen Maße die Ideen, die Gedankengebäude, Vorstellungswelten und Deutungsmuster der Menschheit fortpflanzungsfähig, und formen auf diese Weise die Menschheitsgeschichte und seine Kultur. Damit eine Idee sich fortpflanzen, tradieren kann, ist Voraussetzung, dass sich die Menschen zu einer Gemeinschaft verbinden und gemeinsames Handeln zumindest rudimentär stattfindet. Die Idee, das Ideengebäude eines einzelnen isolierten Individuums stirbt mit dem Tod dieses Menschen, es kann seine Gedanken niemandem tradieren. Nur weil der Mensch ein soziales Wesen ist, hat er Kultur, und nur weil wir in einem Kulturraum leben, sind wir, zumindest heute, wo wir zunehmend von den kulturellen Errungenschaften abhängig geworden sind und sieben Milliarden Menschen ernährt werden müssen, fähig zu überleben.

Wir wissen bis heute sehr wenig über die Ideenwelt und das Mischverhältnis säkularer und religiös motivierter Werte, Normen und Verhaltensmuster des Menschengeschlechts am Anfang seiner Geschichte. Mit Sicherheit ist allerdings davon auszugehen, dass sich Menschen, sobald sie sich in einer einigermaßen kontinuierlichen Gruppe oder Horde zusammengefunden hatten, auch soziale Verhaltensregeln aufgestellt, Kulturtechniken und Deutungsmuster in Bezug auf die sie umgebende belebte und unbelebte Natur wechselseitig kommuniziert haben. Diejenigen Verhaltens- und Deutungsmuster, die in der Gruppe konsensfähig waren, wurden tradiert und an die nachkommenden Generationen vererbt.

Dietrich Mani, der im thüringischen Bilzingsleben Ausgrabungen von Homo-erectus-Funden leitete, ist überzeugt, 370 000 Jahre alte Spuren rituellen Handelns gefunden zu haben. Dies ist allerdings bisher nur ein singulärer Fund. Aber 300.000 Jahre später, zu Zeiten des homo sapiens häufen sich die Indizien, dass Heilige und Götter verehrt wurden. Spätestens vor 50.000 Jahren haben die Menschen ihre Toten bestattet, ein sicheres Zeichen dafür, dass an ein Jenseits geglaubt wurde, insbesondere dann, wenn den Toten Gaben mit auf den Weg ins Jenseits gegeben werden. Einfache Glaubenssysteme wurden also schon sehr früh von den Menschen entwickelt und dürften von Anbeginn das soziale Leben und die Wirklichkeit des modernen Homo sapiens begleitet haben. Es ist heute keine Kultur, kein Volk oder Volksgruppe bekannt, die nicht in irgendeiner Form Glaubenssysteme besitzt.

Religion berührt somit grundsätzliche Fragen des menschlichen Seins und Denkens, unabhängig davon, wie die Glaubensgrundsätze im Einzelnen ausgestaltet sind. Sobald der Mensch ein reflexives Bewusstsein entwickelt hatte[8] und in der Lage war, über sich selbst und seine undurchschaubaren Existenzbedingungen nachzudenken, hat er deswegen mit einiger Sicherheit auch angefangen, über grundsätzliche Fragen des Seins zu reflektieren und Thesen und Hypothesen über unerklärliche Vorgänge in der sinnlich erfahrbaren Natur wie auch jenseits des physisch Wahrnehmbaren (Metaphysik) aufzustellen. Der nach Wissen suchende Geist, der seinen evolutionären Anfang in der Herausbildung von Neuronenzellen und seinen vorläufigen Endpunkt in der Entwicklung eines biografischen Selbst und des daraus hervorgegangenen Bewusstseins von Geschichte und Kultur hat, ist ein Wesensmerkmal des Menschlichen schlechthin. Es spricht auf diesem Hintergrund deswegen vieles dafür, dass der Mensch, eingebunden in eine Welt des Werdens, wo beide, Mensch und Natur unauflöslich miteinander verbunden sind, schon in einer sehr frühen Entwicklungsstufe Ideen eines höchsten Wesens als Weltverursacher (Aristoteles) und Welturheber (Kant) zu entwickeln versuchte.

Wie der Philosoph und Chemie-Nobelpreisträger von 1977 Ilya Prigogine dargelegt hat, spielt hier auch der Mythos im Zusammenspiel mit dem Verstand eine wichtige Rolle. Beide sind komplementäre Spiegelungen ein und desselben Bewusstseins, mit dem die Menschen den Rätseln des Lebens auf die Spur zu kommen versuchen. Mythos vervollständigt in diesem Sinn das Wissen. An der Nahtstelle von Wissen und Nichtwissen setzt Transzendenz und Kreativität ein. Wenn wir also, so Ilya Prigogine weiter, den Vorstoß unternehmen, das Werden zu verstehen, streben wir danach, das Neue zu verstehen, die Kreativität, also auch uns selbst.

Neuere Ergebnisse der Hirnforschung geben erste interessante Hinweise zum Zusammenspiel von Hirnleistungen und religiösen, mythischen Erfahrungsebenen aus naturwissenschaftlicher Perspektive. Sie erlauben, Hypothesen aufzustellen, wie religiöse Erscheinungen als Begleiterscheinung der Hirnentwicklung entstanden sein könnten. Wenn Religion und religiöse Erfahrungen ein universales Merkmal der menschlichen Natur sind, muss man fragen, was der evolutionäre Sinn von Religion ist. Zwei Erklärungsversuche bieten sich an.

Einem Ansatz zufolge stattete die Natur das Gehirn eigens zum Zwecke der religiösen Empfindungsfähigkeit mit eigenen Schaltkreisen aus. Demnach müsste die Fähigkeit von Religionsempfinden einen selektiven Vorteil im frühmenschlichen Überlebenskampf bedeutet haben. Nach dieser Hypothese könnte dann logischerweise der Vorteil religiöser Empfindungsfähigkeit im Laufe der Evolution aber auch überflüssig werden, sobald der damit verbundene Überlebensvorteil nicht mehr gegeben ist. Sind wir heute an solch einer evolutionären Zeitenwende angelangt, wo Religionen für das Leben und Überleben des Menschen keinen selektiven Vorteil mehr bieten?

Ein zweiter Ansatz besagt, dass die Möglichkeit religiöse Empfindungen erleben zu können, ein Begleitprodukt der evolutionären Hirnentwicklung ist. Die Bewusstseinsfähigkeit und die immer weitere Ausdifferenzierung des menschlichen Hirns führten danach zwangsläufig auch zu der Fähigkeit von übersinnlichen Wahrnehmungen. Eine interessante Frage ist dann, was sich in unserem Gehirn bei Religionsempfindungen, Visionen oder übersinnlichen Erfahrungen abspielt.

In den tieferen Regionen des Schläfenlappens verbirgt sich eine interessante Hirnregion, der Hippokampus. Nur die Reize oder Pulse, die den Hippokampus passieren, werden im Gedächtnis gespeichert. In verschiedenen neuronalen Gehirnschaltkreisen werden innere Körpersignale und äußere sensorische Eindrücke im Hinblick auf die Lebenssteuerung, die biologische und »soziokulturelle Homöostase«[9] bewertet und gefiltert, was aus Sicht des Individuums erinnerungswert oder -unwert, was wichtig und unwichtig, was moralisch richtig und falsch ist. Diese Zensur ist von höchster Wichtigkeit, da der Mensch ansonsten in einer Flut von sinnlosen Daten ertrinken und orientierungslos werden würde. Andererseits begrenzen diese Filter natürlich die potenzielle individuelle Wahrnehmungs- und Bedeutungsvielfalt. Das autobiografische Selbst verarbeitet im Wesentlichen nur, was aus seiner sozial-psychologischen und biografischen Geschichte heraus Wert besitzt. Aber auch das, was gespeichert wird, ist nicht alles dem bewussten Geist zugänglich. Vieles bleibt dem bewussten, reflexiven Zugriff verschlossen und beeinflusst, als genomisches Unbewusstes (die vom Genom angeregten Handlungsmuster und emotionalen Abläufe) und kognitives Unbewusstes, quasi als verborgene Aktivität des Geistes im Hintergrund, unsere bewussten geistigen Prozesse. Der bewusste Geist, das autobiografische Selbst muss sich fortwährend gegen die unbewusst wirkenden Prozesse durchsetzen.

Weiterhin sind wir bemüht, all unser Fühlen, Denken und Handeln vor uns selbst und vor anderen sprachlich-logisch zu rechtfertigen, so der Hirnforscher und Philosoph Gerhard Roth. Reizt man zum Beispiel das Gehirn von Versuchspersonen mit Elektroden, so dass sie eine Bewegung wie Marionetten auf Knopfdruck des Versuchsleiters ausführen, deklarieren diese danach ihr Tun unwillkürlich als gewollt und gelernten Bedeutungsmustern: »Ich wollte nach dem Brot greifen, weil ich Hunger hatte«. Sie behaupteten dies, obwohl kein Hungergefühl vorhanden und der Greifreflex künstlich ausgelöst und nicht bewusst gesteuert wurden.

Die geschilderten neuronalen Prozesse, die unsere Wahrnehmung, unsere reflexiven Prozesse, unser Verhalten und unsere Emotionen beeinflussen, können allerdings auch ausgeschaltet oder zumindest gedämpft werden, zum Beispiel durch Drogen, durch Fasten, was in vielen Religionen vorgeschrieben ist, durch rituelle Tänze, die zur Ekstase oder Trance führen können, durch Meditation oder etwa durch sehr intensives, innigliches Beten. Durch die so verursachte Dämpfung der Aktivitäten dieser Gehirnregionen werden kreative, neue Zusammenhänge denkbar, werden Visionen und mitunter auch Halluzinationen hervorgerufenen, die keiner Filterung mehr ausgesetzt sind. Interessant dabei ist, wie Versuche des Radiologen Andrew Newberg[10]gezeigt haben, dass diese Visionen durch eine gleichzeitig herbeigeführte Deaktivierung der Scheitellappen den Kontakt zum eigenen Körper verlieren. In dieser Hirnregion laufen alle Informationen über den physischen Körper zusammen, hier werden setzen sich die Signale von Haut, Nase, Augen, Ohren, den Muskeln und motorischen Steuerzentren zu einem Bild des eigenen Körpers zusammen. Wird der Kontakt zu dieser körperlichen Sinneswahrnehmung unterbrochen, empfindet der Mensch nur noch Geist, körperlose Empfindungen, die scheinbar irdischen Gesetzen nicht mehr unterworfen sind. Diese so hervorgerufene Schwerelosigkeit und Entkörperlichung des Geistes, eines Bildes oder einer Idee könnte der Ursprung religiöser Erfahrungen des Menschen sein. In einem Selbstversuch konnte der Kanadische Psychologe Michael Persinger so religiöse Gefühle quasi ein- und ausschalten, indem er die entsprechenden Regionen des Schläfenlappens seines Großhirns mit Magnetspulen manipulierte [11]

Der Mensch ist dank seines im höchsten Maße komplexen neuronalen Systems als einziges Lebewesen in der Lage, sich Ideenwelten, Heilige, Götter Kraft seiner Gedanken, seinem poetischen Vermögen und Kreativitätspotenzial nach seinem Ebenbild zu schaffen – und auch fähig, übersinnliche, von der Physis losgelöste, Empfindungen haben zu können. Diese Glaubens- und Götterwelt, die, wie aus der griechischen oder auch germanischen Mythologie allseits bekannt ist, durchaus menschliche Züge hatte, hat sich im Laufe der Zeit verselbständigt und führt eine eigene Existenz als quasi naturgegebenes Phänomen, abgekoppelt von seinem Erfinder, dem menschlichen Geist.

In der weiteren Menschheitsentwicklung bildeten diese vorerst unreflektierten tradierten mythischen Götterwelten das Fundament des Weltsystems. Schließlich begann der Mensch über die Entstehung der Welt und über sein Dasein und seine Stellung in der Welt zu reflektieren[12]. Die Götterwelten erschlossen sich dem Menschen, Glaubenssysteme nahmen Gesetzescharakter (besonders stark ausgeprägt im Islam) an, bildeten die Fundamente von Sittlichkeit, Tugendhaftigkeit und menschlichem Sein überhaupt. Und damit haben die Götter Lenkungskraft und sittliche Kraft über diejenigen errungen, die die Götter geschaffen haben.

 
Wer Zugang zu den Mächtigen der Gottwelten hat und sich mit Gott gut steht, oder wem es gelingt, sich gar als direkter Abkömmling oder Verwandter Gottes darzustellen, ist legitimiert, dessen Angelegenheiten auf der Erde zu verwalten und zu exekutieren, sowie dessen Werte und Regeln zu bewahren. Die Abkömmlinge oder Vertreter Gottes auf Erden haben ein verständliches Interesse daran, den Kreis derjenigen, die Zugang zu dieser Gottheit haben können, zu beschränken und die mit der Zugangsbeschränkung und der Nähe zu Gott einhergehende Machtfülle für sich zu konservieren. Dies geschah und geschieht dadurch, dass die Verwalter der Angelegenheiten Gottes auf Erden einerseits die Zugangsregeln zu Gott selbst entwerfen und definieren. Sie versehen den Zugang quasi mit einem Numerus Clausus und überwachen diesen entsprechend. Andererseits versuchen die Vertreter der Gottheit auf Erden die Machtfülle dadurch auszudehnen und abzusichern, dass sie religiöse Normen und Werte auf möglichst viele Handlungs- und Verhaltensbereiche einer Gesellschaft ausdehnen.

 

Das Christentum

Wenn es richtig ist, dass Glaubenssysteme, Gott und Götterwelten menschengemacht sind – und es gibt aus erkenntnistheoretischer, biologischer und evolutionstheoretischer Perspektive keinen Grund, dies nicht anzunehmen –, dann kann sich das Ergebnis durchaus sehen lassen. Es ist der Menschheit im Laufe seiner Geschichte gelungen, allumfassende und höchst facettenreiche religiöse Systeme zu kreieren.

Eine dieser Facetten präsentiert das Christentum. Ein theologisches System, das im besonderen Maße zur Befriedigung psychologischer und sozialer Bedürfnisse und unerfüllter Heils- und Jenseitserwartungen des Menschengeschlechts, aber auch zur Disziplinierung und Steuerung des Verhaltens der Menschen geeignet ist. Die christliche Kirche des Abendlandes als der Institution, der die Verwaltung und Verkündung der Angelegenheiten des christlichen Gottes obliegt, hat als Auftrag, zeitadäquate Glaubenssätze in konkrete Handlungs- und Verhaltensvorschriften umzusetzen, christliche Handlungen und Rituale entsprechend zu überwachen und deren Nicht-Einhaltung gegebenenfalls zu sanktionieren. Die christliche Kirche hat sich im Laufe der Jahrhunderte ein umfangreiches und exklusives Zugangs- und Verwaltungssystem erschaffen und ihre geistliche und auch weltliche Macht über ein hochkomplexes System von Glaubenssätzen und Dogmen auf alle Bereiche menschlichen Handelns ausgedehnt, dem sich der Einzelne über Jahrhunderte blindlings unterwerfen musste – oftmals auf Leben oder Tod. Jeder Gläubige wird dafür, dass er sich den göttlichen Gesetzen fügt, mit dem Schutz der kirchlichen Gemeinschaft belohnt und kann auf ewiges Leben hoffen (Johannes 3,16), denjenigen, die das nicht tun, droht allerdings ewige Verdammnis und Elend nicht nur im Himmel, sondern schon auf Erden.

Erst mit der Aufklärung im 17./18. Jahrhundert beginnen die Menschen in Europa sich von dem starren Glaubenssystem der christlichen, insbesondere der katholischen Kirche, allmählich zu emanzipieren und dies grundsätzlich öffentlich zu diskutieren und zu hinterfragen. Die Menschen erobern für sich die Definitionsmacht über ethische Grundsätze, Werte und Moral zurück, die über Jahrhunderte hinweg uneingeschränkt die Kirche besessen hatte.[13]

Die christliche Schöpfungsgeschichte verdeutlicht anschaulich das Bestreben der Menschen, die Welt, so wie sie sich den Menschen damals darbot, zu begreifen und plausibel die Entstehung der Erde zu beschreiben. Da die Menschen noch nicht über gesicherte naturwissenschaftlichen Erkenntnisse der Entstehung der belebten und unbelebten Natur verfügten, entwickelten sie Vorstellungen und Ideen darüber, wie es gewesen sein könnte und integrierten diese spekulative Ideenwelt in ihr Glaubenssystem.

 »Da machte Gott die Feste und schied das Wasser unter der Feste von dem Wasser über der Feste. Und es geschah so.« (1. Mose 1, 7) Das hebräische Wort ‚Feste’ bezeichnet etwas Festgestampftes oder eine Platte. Man dachte sich im alten Orient den Himmel als eine riesige Kuppel. Darüber befand sich nach dieser Anschauung der Himmelsozean und über diesem die Wohnung Gottes (Ps. 104,1-3). Neben Sonne, Mond und Sterne (1. Mose 1,16) schuf Gott die Erde, Pflanzen, Tiere und als Krönung der Schöpfung den Menschen.

Wir wissen heute natürlich, dass diese Interpretation der Weltentstehung und der Entstehung des Kosmos falsch ist, aber wir dürfen nicht vergessen, dass sie über Jahrhunderte sie unumstößliche Gültigkeit hatte und sie es den Vertretern Gottes auf Erden ermöglichte, diesen christlichen Gott als alleinigen aktiven Gestalter und Urheber des Weltgeschehens und des Universums glaubhaft zu etablieren. Die Macht des christlichen Gottes umfasste damit alle denkbaren Sphären des Himmels und der Erde, niemand auf Erden konnte sich dieser Macht entziehen. Die christliche Religion, die ja bekanntlich auf einer prophetischen, offenbarenden Ein-Gott-Lehre basiert (»Du sollst keine anderen Götter neben mir haben«), verkörpert den Inbegriff eines totalitären Glaubenssystems. Gott im christlichen Sinn ist allmächtig, ubiquitär und allgegenwärtig. Seine Macht erstreckt sich nicht nur über urbi et orbi, sondern Gott hat Macht über das Universum insgesamt.

Inhaltlich versteht sich das Christentum im Kern als eine Art Liebesreligion und seine Heilslehre ist um die erlösende Kraft der Liebe konzentriert.[14] Jesus opfert sich am Kreuz aus Liebe zu den Menschen, und wer Jesus liebt, soll dadurch Erlösung finden. Die christliche Ethik propagiert aber nicht nur Nächstenliebe, sondern sogar Feindesliebe sowie Mitmenschlichkeit, Solidarität und Barmherzigkeit (»Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde, segnet, die euch fluchen, tut wohl denen, die euch hassen und bittet für die, die euch beleidigen und verfolgen, damit ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel.« (Matthäus 5, 44-45). Sie schließt die Idee der Gerechtigkeit und die Unterstützung der Schwachen, der Ausgegrenzten und Kranken ausdrücklich in die Heilslehre ein (Matthäus 5, 3-10).

Dies sind aus Sicht der damaligen Zeit, in der ein Menschenleben, insbesondere der Entrechteten, der Sklaven und Ausgegrenzten, wenig galt, revolutionäre Ideen. Sie zeugen von dem Aufkeimen eines radikal neuen Menschenbildes, das dem damals vorherrschenden Bild des Menschen, das von den Machteliten der Großmächte Ägypten und Assyrien geprägt wurde, entgegen gestellt wurde und große Attraktivität besaß.

Es ist bis heute noch nicht eindeutig geklärt, wann die Bibel entstanden ist. Ein Teil der Forscher geht von einem Entstehungsdatum um 1000, andere datieren sie um 600 oder gar erst um 300 vor Christi Geburt. Als wahrscheinlichstes Datum gilt die Zeit um 600, als vermutlich Priester der Zionistengemeinde große Teile des Alten Testaments verfassten. Eine Zeit also, da Israel von den Assyrern erobert und unterdrückt und das Königreich Judäa von Ägypten und Assyrern bedroht war. 587 verliert auch das Königreich Judäa, wie schon seit 732 Israel, seine Unabhängigkeit. Diese politische Lage und die Unterdrückung der Menschen spiegeln sich auch in der Bibel wieder, indem sie, zum Beispiel in der Bergpredigt, die Entrechtung der unterdrückten Völker und die Menschenwürde thematisiert.

In der christlichen Erlösungsreligion werden hohe Aggressionstabus aufgebaut, die die Gewalt bannen sollten, die in der damaligen politischen Landschaft wie auch zum Beispiel in der griechischen Götterwelt noch ein integraler Bestandteil des Geschehens war. Die Götter konnten sowohl liebevoll und schützend, aber auch hinterlistig, rücksichtslos und gewalttätig sein. Der christliche Monotheismus[15] wird demgegenüber von einem Gott der reinen Liebe repräsentiert, der eine Welt ohne Gewalt propagiert (Matthäus 5, 38-42).


Neben der Tabuisierung von Aggressionen werden in der christlichen Lehre im besonderen Maße sexuelle Handlungen und Empfindungen mit Verboten belegt und die Sexualität von der Liebe entkoppelt. Nicht nur, dass Jesus selbst ohne geschlechtlichen Akt jungfräulich geboren worden sein soll, sondern alle sexuellen Impulse, die über die eheliche Sexualität zum Zwecke der Zeugung hinausgehen, sind mit drastischen Sanktionen belegt: »Wer eine Frau ansieht, sie zu begehren, der hat schon mit ihr die Ehe gebrochen in seinem Herzen. Wenn dich aber dein rechtes Auge zum Abfall verführt, so reiß es aus und wirf’s von dir. Es ist besser für dich, dass eins deiner Glieder verderbe und nicht der ganze Leib in die Hölle geworfen werde.« (Matthäus 5, 28-29).

Gefordert wird die reine, edle und bedingungslose Liebe. Die Abspaltung der Liebe von der Sexualität hat zur Konsequenz, dass die Sexualität dem Bösen zugerechnet wird. Der heiligen Stadt Jerusalem, die die reine Liebe beherbergt, wird Babylon, »die Mutter der Hurerei« entgegengesetzt. Für diese gelten dann die Gebote der Nächstenliebe und Barmherzigkeit allerdings nicht mehr: »Darum werden ihre Plagen an einem Tag kommen, Tod, Leid und Hunger und mit Feuer verbrannt werden; denn stark ist Gott der Herr, der sie richtet.« (Offenbarung 18, 8)

Das oberste Gebot christlicher Religion ist, Gott zu lieben (»Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt« Matthäus 22, 37). Es reicht also nicht aus, nur ein Diener Gottes zu sein, ihn zu achten und zu respektieren, um die Gnade Gottes zu finden, sondern die Menschen müssen sich ihm als Ganzes hingeben, mit all ihrer Emotionalität und all den Gefühlswelten, derer Liebe fähig ist. Sogar die Liebe zu Vater, Mutter, Sohn oder Tochter muss der Gottesliebe gegenüber zurücktreten, ist zweitrangig (»Wer Vater und Mutter mehr liebt als mich, der ist meiner nicht wert; und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, ist meiner nicht wert.« Matthäus 10, 37).

Mit der biblischen Forderung nach dieser bedingungslosen Liebe erreicht die christliche Kirche eine ungemein starke Emotionalisierung religiöser Beziehungen und eine immerwährende Kontrolle der innersten Gefühlslagen der Menschen. Gott ist nicht nur als Idee Vater, sondern wird und soll auch in der konkreten emotionalen Gefühlswelt als Vaterfigur erlebt werden – und mit ihr werden alle Gebote und Verbote der Kirche emotionalisiert und internalisiert und im Über-Ich als oberste Kontrollinstanz abgespeichert. Jeder weiß natürlich, dass die Vielzahl von Geboten und Verboten, denen jeder ausgesetzt ist, auch unter Aufbringung sehr großer Kräfte nicht in jeder Situation und vollständig eingehalten werden kann. Haben im täglichen Leben kleinere, unbedeutende Übertretungen von Vorschriften oftmals nur geringe Auswirkungen, so ist das bei Übertretungen von Gottes Geboten allerdings anders. Mit diesen Übertretungen sind bei Gläubigen existenzielle Ängste vor der Hölle und konkreter Bestrafung auf Erden durch Elend, Krankheit oder Tod verknüpft. Gott erkennt und sieht alles, kann also auch in das Innerste der Menschen schauen, so dass der Sünder keine Chance hat, die Gebotsübertretung vor Gott zu verheimlichen. Da es aber für den Menschen unmöglich ist, alle christlichen Gebote und Verbote immer und überall zu erfüllen, was natürlich auch die Kirche weiß, hat die katholische Kirche als Ventil die Beichte und den Ablass, der erstmals im 11. Jahrhundert erhoben wurde, eingeführt. Damit konnte die permanente Furcht vor Sünde und Bestrafung wenigstens teilweise Entlastung finden und abgebaut werden.

So sehr die christliche Kirche Begriffe wie Mitmenschlichkeit, Solidarität, Barmherzigkeit, Gerechtigkeit, aber auch Ordnung, Disziplin, Leistung, Dienen und Arbeitsethos (»ora et labora«) in den Vordergrund ihres Wertekanons stellte, so unbarmherzig konnte sie gegenüber den Feinden dieser Glaubenssätze sein, was in einem seltsamen Widerspruch zu dem Nächstenliebegebot steht. Die Bibel bietet eine Fülle von Hinweisen, die der Interpretation breite Spielräume öffnet, wie mit Menschen, die christliche Glaubenssätze und Regeln missachten oder anderen Glaubens sind, zu behandeln und zu bestrafen seien. »Ihr Schlangen, ihr Otternbrut! Wie wollt ihr der höllischen Verdammnis entrinnen?« (Matthäus 23, 33). Oder in der Offenbarung 21, 8: »Die Feigen aber und Ungläubigen und Frevler und Mörder und Unzüchtigen und Zauderer und Götzendiener und alle Lügner, deren Teil wird in dem Pfuhl sein, der mit Feuer und Schwefel brennt; das ist der zweite Tod«. Oder im Alten Testament im 1. Mose 19, 24-25: »Da ließ der Herr Schwefel und Feuer regnen vom Himmel herab auf Sodom und Gomorra und vernichtete die Städte und die ganze Gegend und alle Einwohner der Städte und was auf dem Lande gewachsen war.«

Die Kirche hat im Laufe ihrer Geschichte diese biblischen Hinweise und Fingerzeige, wie Nichtgläubige oder Abtrünnige zu behandeln seien, durchaus konkret umgesetzt, wie die Kreuzzüge gegen die Ungläubigen, die Ausrottung ganzer Kulturen und Völker in Mittel- und Südamerika im Namen der heiligen Kirche, oder aber die spätere unbarmherzige Inquisition und die Hexenverfolgungen, in deren Gefolge Zehntausende von Menschen umgebracht worden sind, gezeigt haben.

Aber die Kirche hat auch die Gottesfurcht der Gläubigen selbst ökonomisch und politisch zu nutzen gewusst und ihre Macht immer weiter auf die säkulare Welt ausgedehnt und Reichtümer und Ländereien angesammelt sowie ihren Einfluss auf die weltlichen Herrscher verstärkt. Andererseits haben auch die weltlichen Herrscher von der Unantastbarkeit göttlicher Macht profitiert, indem sie sich zum Beispiel von der Kirche bescheinigen ließen, dass sie von Gottes Gnaden herrschen und regieren würden. Könige und Kaiser leiteten daraus ihre absolutistische Macht über das Recht und die Menschen ab. Noch Kaiser Wilhelm II. regierte von Gottes Gnaden und zog für sich daraus den Schluss, dass die Macht, die ihm Gott gegeben habe, nicht durch Parlamente entzogen werden könne.

Und die Kirche hat sich schließlich, wie bereits erwähnt, über mehr als ein Jahrtausend die Interpretationshoheit in der abendländischen Welt bewahrt. Sie hat lange Zeit bis ins 17./18. Jahrhundert die ideelle, geistige Welt in Europa geprägt und weitgehend definiert, was gut und böse ist, wie die Welt als Ganzes auszusehen hat und wie die Beziehungen der Menschen im Besonderen. Sie definierte die dienende und nahezu rechtlose Rolle der Frau in der von Männern dominierten Welt, und definierte wie Mann und Frau, ja welche Menschen überhaupt zusammenleben und sexuelle Beziehungen haben dürfen und wie deren sexuelles Leben auszusehen habe. Sie wollte uns glauben machen, dass der Mensch von Natur aus böse und schlecht sei: »Als aber der Herr sah, dass der Menschen Bosheit groß war auf Erden und alles Dichten und Trachten ihres Herzens nur böse war immerdar« (1. Mose 6, 5), oder auch in Matthäus 7, 11: »Wenn nun ihr, die ihr doch böse seid...«. Diese pessimistische anthropologische Sichtweise der katholischen Kirche war die Begründung dafür, dass die Menschheit und jeder einzelne Mensch ohne die von der Kirche vorgeschriebenen sittlichen Werte, ohne die strengen kirchlichen Regeln und Gebote und ohne Furcht vor Strafe verrohen würde und er unfähig wäre, ein der Krönung der Schöpfung angemessenes Leben zu führen. Die Kirche nutzte darüber hinaus die existenzielle Furcht des Menschen vor dem Sterben und bot ihm bei Wohlgefallen ein ewiges Leben als Lohn.

Der Aspekt des Weiterlebens über den Tod hinaus taucht in allen bekannten Religionen in den unterschiedlichsten Varianten auf und spielt für die menschliche Psyche eine wichtige Rolle, obwohl die Sehnsucht nach dem Weiterleben nach dem Tod natürlich durchaus auch säkular befriedigt werden kann: Indem der Mensch seine Taten, Ideen und Gedanken an andere Menschen weitergibt, überdauern diese Ideen und auch derjenige, der diese Ideen in die Welt gesetzt hat. Unsterblichkeit im Gedächtnis der Nachfahren zu erlangen, war bereits bei Homer und den Griechen der nachfolgenden Jahrhunderte höchstes Ziel und war der Wurzelstock der dauernden geistigen Welt (Geist der den Menschen gegenwärtig bleibt). Manchmal überdauern die Ideen und ihre Träger sogar über Jahrtausende, wenn sie bedeutend genug für die Menschheit waren, wie Homer selbst und viele andere Philosophen und hervorragende Persönlichkeiten der Geschichte belegen.

Die Selbst-Bestimmung des Menschen mit der die prinzipiell freie Gestaltung sozialer Beziehungen im Rahmen eines diskursiven Begründungszusammenhangs einhergeht, wird heute von vielen Menschen als selbstverständlich erlebt. Die Hegemonie der christlichen Kirche stand diesen Emanzipationsbestrebungen und der vorurteilsfreien und vernunftgesteuerten Entfaltung und Gestaltung der menschlichen Belange entgegen, hat sie nahezu zwei Jahrtausend lang unterdrückt.

Man kann darüber diskutieren, ob der Mensch von Natur aus gut oder schlecht ist. Aber was heute nicht mehr in Frage gestellt werden kann und in demokratischen Staaten entsprechend auch selbstverständliche politische Lebenswirklichkeit sein sollte (Trennung von Kirche und Staat), ist, dass der politische Mensch (zoon politikon) nicht göttlichen Beschlüssen, Handlungsanleitungen oder Gesetzen unterworfen, sondern frei in der Gestaltung seiner Lebenszusammenhänge ist. Er gibt sich selbst in sozialer und politischer Verantwortung Gesetze und Regeln des Zusammenlebens auf der Basis konsensfähiger, diskursiv begründeter Werte und ethischer Leitlinien, die der Wesenheit des Menschen entsprechen und für jeden Menschen eines Gemeinwesens Gültigkeit haben und gleichzeitig die Individualität eines Jeden respektieren. Europa fußt auf drei wichtigen Fundamenten, nämlich dem römischen Rechtsdenken (Gerechtigkeit iustitia und Gesetzesrecht ius = Sphäre der Politik und Verwaltung), der griechischen Philosophie (Logos, Rationalismus, Autonomie des Menschen = Sphäre des Geistes) und dem Christentum (Fideismus, christliches Denken = Sphäre des Glaubens). Wegen des übermächtigen Einflusses der katholischen Kirche auf Politik und Gesellschaft, und wegen ihres totalitären Glaubenssystems und säkularen Herrschaftsanspruches musste Europa einen langen und dornenvollen, einen mit Religionskriegen gepflasterten Weg zurücklegen. Europa musste viel Leid ertragen, bis es den aufgeklärten Menschen in langen und auch blutigen Auseinandersetzungen gelang, die Macht, die die christlichen Kirche über die Menschen gewonnen hatte, einzudämmen, und die Hegemonie der Kirche über das Denken und die Seinsverfassung des Menschen einem säkularen Denken weichen musste. Einem Denken, welches die Wesensmerkmale des Menschen in freier, selbstbestimmter Verantwortung reflektiert, und welches die Art und Weise des Zusammenlebens sowie die grundsätzliche Orientierungen und Werte aus dem Diskurs ihrer Gesellschaftsmitglieder und der Freiheit des vernunftgeleiteten Menschen ableitet.

 

 


[1] Antonio Damasio, Selbst ist der Mensch, München 2011, S. 169

[2] Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Paderborn, 2. Auflage von 1787, S. 480.

[3] Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Paderborn, 2. Auflage von 1787, S. 480.

[4] Immanuel Kant, a.a.O., S. 476ff.

[5] Immanuel Kant, a.a.O., S. 516

[6] Horst Kurnitzky‚ Die unzivilisierte Zivilisation, Frankfurt/Main 2002, S. 220.

[7] Antonio Damasio, Selbst ist der Mensch, München 2011, S. 306.

[8] Antonio Damasio, a.a.O. vermutet, dass sich das Selbst im Laufe des Pleistozäns allmählich entwickelt hat und erst wenige Zehntausend Jahre alt ist. Vor ca. 70.000-100.000 Jahren entwickelte sich durch molekulare Veränderungen im Gehirn die universale Grammatik, die Voraussetzung für die Sprachentwicklung und -fähigkeit ist (Prof. Dr. Günther Grewendorf).

[9] Antonio Damasio, Selbst ist der Mensch, München 2011, S. 307

[10] Vgl. Der Spiegel vom 18.5.02

[11] Vgl. Der Spiegel vom 18.5.02

[12] Vgl. dazu bei Karl Jaspers die Achsenzeit, die er zwischen 800 und 200 v. Chr. ansiedelt. Karl Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, München 1983, S. 19f

[13] Vgl. hierzu den Essay zur Säkularisierung in diesem Reader.

[14] Vgl. dazu auch den Essay ›Papstliebe‹ in diesem Reader.

[15] Der christliche Gott ging aus dem heidnischen Gott Jahwe hervor, einem Wettergott. Er wurde zum Beispiel als Stadtgott Jerusalems auf dem Berg Zion als Donnergötze verehrt. Im Jahre 639 v. Chr. versuchte Josia, König von Juda, den Monotheismus in Juda zu etablieren. Das Jahr 587 v. Chr., als der Babylonier Nebukadnezar Juda und Jerusalem eroberte und das Volk unterdrückte, verhalf dann dem Monotheismus zum Durchbruch. Es dauerte aber immer noch bis zum 2. Jahrhundert v. Chr., so vermuten Bibelforscher, bis sich diese Ein-Gott-Lehre wenigstens in dem kleinen und damals völlig unbedeutenden Königreich durchsetzte. Bis dahin wurde Gott Jahwe immer auch noch bei Bedarf als Wettergott angerufen und um Hilfe gebeten.

 

 


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