Am 18. Mai 1848 trat in Frankfurt zum ersten Mal die

deutsche Nationalver-sammlung zusammen.

Es war die Geburtsstunde der deutschen Demokratie. Sie überlebte nur etwas mehr als ein Jahr bis zur Kapitulation der Freiheitskämpfer in der badischen Festung Rastatt vor den preußischen Truppen am 23. Juli 1849.

1933 hat »der Nationalsozialismus in der Demokratie mit der Demokratie die Demokratie besiegt.« So Hitler im Originalton.

Heute im Jahr 2023 ist die Demokratie in Deutschland und vielen anderen Staaten der Welt wieder bedroht und von populistischen Ideologien durchsetzt oder hat sich bereits hin zu illiberalen, autokratisch-populistischen und faschistischen Staatsformen entwickelt. Es lohnt sich also, genauer hinzusehen und deren Charakteristika herauszu- arbeiten.

Es ist Zeit die Demokratie neu mit Leben zu füllen.

 

Leserempfehlung: DEMOKRATIE LEBEN!

"...Geradezu eine Pflichtlektüre für politische Bildung in der aktuellen Situation." (Herbert Kramm-Abendroth)

 

 

Das Buch öffnet die Augen für das, was wichtig ist im Leben.
"Wenn wir Neues schaffen wollen, müssen wir uns von dem bloß passiv-betrachtenden Denken, dem Zukunft fremd ist, lösen. Wir müssen den Willen zum Verändern der Welt,in der wir leben aufbringen und den Mut haben, unser Wissen und Denken auf die noch ungewordene Zukunft ausrichten."
(aus: GUTES LEBEN, S. 330)

 

Spannender histori-scher, biografischer Roman über Olympe de Gouges: Warum nicht die Wahrheit sagen.

»Ich bin eine Frau. Ich fürchte den Tod und eure Marter. Aber ich habe kein Schuld-bekenntnis zu machen. Ist nicht die Meinungs-freiheit dem Menschen als wertvollstes Erbe geweiht?«

So verteidigte sich Olympe de Gouges vor dem Revolutionstribunal in Paris. Eine kompromisslose Humanistin, eine sinnliche, lebenslustigeund mutige 

Frau, die der Wahrheit unter Lebensgefahr zum Recht verhelfen will und als erste Frau in der Geschich-te  auch für das weibliche Geschlecht die Bürger-rechte einfordert. Die Zeit vor und während der Französischen Revolution gewinnt in dieser historisch-authentischen Gestalt Lebendigkeit und atmosphärische Dichte.

 

Piano Grande
Ein Roman über die Liebe in Zeiten der Krise.

Der Roman Piano Grande

zeichnet ein eindringliches Porträt des ersten Jahr-zehnt dieses Jahrhunderts, in dem die Finanz- und Wirtschaftskrise die Welt an den Rand des Abgrunds brachte.

Der Roman wirft auf dem Hintergrund einer großen Liebesgeschichte "einen sezierenden Blick auf die Gesellschaft und ihre Eliten..., die die Welt im Jahr 2008 in eine wirtschaftliche Kata-strophe geführt haben ..." (Wetterauer Zeitung)

 

Als vertiefende Ergänzung zu dieser Wirtschafts- und Finanzkrise empfehle ich Ihnen meinen Essay: Demokratischer Marktsozialismus. Ansätze zu einer bedürnisorientierten sozialen Ökonomie.

 

(Käthe Kollwitz)

 

Was ist das für ein demo-kratisches System, das unfähig ist, den Mord-versuch vom 6. Januar 2021 an ihrer Demokratie zu ahnden?

Unter Nice-to-now habe ich für Sie Ausschnitte aus der Rede von Trump zur Wahl und den Sturm auf das Kapitol zusammen-gestellt.

 

Besuchen Sie auch meine Autorenseite Henning Schramm  auf Facebook. Ich würde mich freuen, wenn sie Ihnen gefällt.

 

Ich möchte mich auch über das rege Interesse an meiner Homepage mit über 400.000

Besucherinnen und Besuchern bedanken.

Leseprobe

3. Kapitel
Kurt Bärnbach 1933 – 1938

(Seite 83-93)

Als die NSDAP, SA, SS, Stahlhelm und der Preußische Landeskriegerverband in Berlin einen Fackelzug zu Ehren der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler veranstalteten, organisierte Kurt Bärnbach mit seinen Freunden eine Gegendemonstration aus Mitgliedern des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold und der Antifaschistischen Aktion. Die den Fackelzug begleitende Polizei versuchte die Gegendemonstranten auseinanderzutreiben, und es kam zu schweren Zusammenstößen. Spät in der Nacht erst löste sich der geordnete Demonstrationszug auf und einzelne SA-Gruppen zogen grölend und betrunken bis in die Morgenstunden durch die Stadt.

Es war bitterkalt. Bärnbach war müde und fror. Auf dem Weg nach Hause wurde er zusammen mit seinen Kameraden aus dem Reichsbanner von einer Horde SA-Leuten angegriffen, und es kam zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. Plötzlich tauchte die Polizei auf und schoss auf die Reichsbannergruppe. Kurt sah, wie sein Freund, Max Penske, von einer umherirrenden Kugel am Oberschenkel getroffen wurde. Er fasste ihn unter den Arm und flüchtete mit ihm in einen Hauseingang. Es war ein regelrechtes Gemetzel, was sich vor seinen Augen abspielte. Polizei und SA prügelten mit vereinten Kräften auf die kleine Reichsbannergruppe ein, die der Gewaltorgie kaum noch etwas entgegenzusetzen hatte. Ganz in seiner Nähe hörte er einen Schuss und unmittelbar danach brach, nur etwa zehn Meter von ihm entfernt, ein SA-Mann, der mit erhobenem Arm und einem Prügel in der Hand auf ihn zu gerannt war, zusammen. Kurt Bärnbach versuchte mit seinem Freund Max dem Tumult zu entfliehen. Sie kamen wegen dessen Verletzung nur sehr langsam voran. Einige Straßenzüge weiter wurden sie von Polizei und SA gestellt und verhaftet.

In dem kahlen, fensterlosen Zimmer standen ein rechteckiger Tisch und an den beiden Längsseiten je ein Stuhl. An der Wand hinter dem Kommissar, der ihn befragte, hing ein Bild Hitlers, sein Blick in die Ferne gerichtet. Sonst war das Zimmer leer.

Kurt fühlte sich elend und völlig übermüdet. Er war direkt von der Straße, die Hände schmerzhaft auf den Rücken gefesselt, hierhergeführt worden. Der Strahl einer Schreibtischlampe war auf sein Gesicht gerichtet und blendete ihn, so dass er die Person, die mit ihm sprach, nicht richtig erkennen konnte.

»Wie geht es Max Penske? Ist er versorgt?«, fragte Kurt und beugte sich leicht nach vorne, um das Gesicht seines Gegenüber besser sehen zu können.

»Es geht ihm den Umständen entsprechend. Wir haben ihn ins Krankenhaus gebracht. Aber er ist selbst schuld an seiner Verletzung. Warum auch beteiligt er sich an illegalen kommunistischen Aufmärschen? Wir werden ihn im Krankenhaus verhören. Er entkommt, wie Sie auch, seiner Strafe nicht.«

»Ich muss dem widersprechen. Es war kein kommunistischer Aufmarsch, und illegal war er auch nicht. Ich hatte ihn angemeldet.«

»Interessant! Sie sind also der Rädelsführer der Randale von heute Nacht. Es gab einen Toten, einen SA-Marinesturmmann, und mehrere Verletzte, für die Sie verantwortlich sind.«

»Ich protestiere …«

»Hier protestiert niemand, hier werden ausschließlich Fragen beantwortet«, unterbrach er ihn. »Sie sind Kurt Bärnbach, geboren am 1. Oktober 1895 in Hamburg?«

»Ihr Vater ist der Kaffeegroßhändler August Bärnbach. Ihre Mutter Emilie, geborene Ohlwein, stammt aus einer jüdischen Familie. Ist das richtig?«

»Warum ist das interessant für Sie, Herr…? Sagen Sie mir bitte Ihren Namen?«

»Klein. Nun, es ist interessant, weil es Vieles erklärt.«

»Das verstehe ich nicht. Was soll meine Mutter mit diesen Vorfällen von heute zu tun haben?«

»Sie werden schon noch verstehen. Sie haben 1914 das Notabitur abgelegt. Als Kriegsfreiwilliger waren Sie dann bis 1918 Teilnehmer des Ersten Weltkrieges und dienten als Soldat an der Westfront …«, Klein unterbrach sich und blätterte in seinen Unterlagen und fuhr dann fort: »Sie nahmen an Gefechten bei Ypern, in den Argonnen, in der Champagne und bei Verdun teil und wurden achtmal verwundet. Ist das soweit korrekt?«

»Sie sind hervorragend informiert, Herr Klein. Wie ist es möglich, das alles in so kurzer Zeit zusammenzutragen?«

»Der Staatsapparat muss immer vorbereitet und wachsam sein. Schließlich sind Sie kein ganz Unbekannter. Sie sind Pressereferent im Reichsministerium des Innern, wenn meine Unterlagen stimmen.«

»Auch das ist korrekt.«

»Gut, lassen Sie uns mit Ihren Personalien fortfahren, bevor ich zum Kern der Untersuchung komme. Verbessern Sie mich, wenn ich etwas Falsches sage. Sie waren also im Herbst Achtzehn Leutnant im Generalstab von Hindenburg und Ludendorff. Nach dem Krieg haben Sie von 1919 bis 1923 in München und Frankfurt am Main Philosophie und Nationalökonomie studiert und selbst literarische Texte in Zeitschriften publiziert. Sie engagierten sich in der Kulturpolitik und in Arbeiter- und Soldatenräten. Seit 1920 sind sie Mitglied der SPD und arbeiteten aktiv bei den Jungsozialisten mit. Schon seit 1924 sind Sie führendes Mitglied des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold, das aktiv gegen den Nationalsozialismus kämpft. Und im selben Jahr gründeten Sie zusammen mit anderen den Klub vom 3. Oktober, dessen Ziel der gemeinsame Kampf gegen die angeblichen Feinde der Weimarer Republik war. Von 1924 bis 1929 waren Sie als Redakteur der Tageszeitung Hamburger Echo tätig und ab 1927 zusätzlich für die SPD in der Hamburger Bürgerschaft, aus der Sie dann austraten, als Sie, wie schon erwähnt, Pressereferent im Reichsministerium des Innern wurden. Stimmt das alles soweit?«

»Ich könnte meine Lebensdaten kaum prägnanter ausdrücken.«

»Erinnern Sie sich noch, wo Sie am 17. Juli 1932 waren?«

»Diesen Tag werde ich nie vergessen! Ich war in Hamburg. Es war ein Sonntag.«

»Richtig. Genauer gesagt waren Sie in Hamburg-Altona.«

»Es war der sogenannte Blutsonntag, an dem die SA provokant durch die KPD-Hochburg Altona marschiert ist, und es zu blutigen Straßenschlachten kam.«

»Und Sie waren dabei und sind zu drei Monaten Haft verurteilt worden, weil Sie mehrere SA-Leute so verletzt haben, dass sie ärztlich behandelt werden mussten.«

»Ich bin zu Unrecht verurteilt worden ...«

»Das behauptet jeder!«, unterbrach Klein.

»Und dass ich jemanden krankenhausreif geschlagen haben sollte, wurde von einigen SA-Leuten behauptet, aber nie bewiesen. Dieser provozierende SA-Umzug war von langer Hand geplant worden, um den Staatsstreich vorzubereiten, der drei Tage später über die Bühne ging. Dieser sogenannte Preußenschlag, der vordergründig zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung dienen sollte, in Wirklichkeit aber genutzt wurde, um die Zerschlagung der Republik und damit auch der Demokratie einzuleiten. Hindenburg instrumentalisierte die Unruhen damals dazu, eine Notverordnung zu erlassen und unter Umgehung des Parlaments der Regierung alle Macht zu übertragen.«

»Herr Bärnbach, jetzt machen Sie aber mal halblang. Sie sind rechtskräftig verurteilt worden und waren gewalttätig geworden. Das können Sie nicht abstreiten. Und was sollen denn das für Verschwörungstheorien sein. Es waren gefährliche Tumulte und die KPD hat doch bis heute nichts anderes vor als Revolution und die Einführung des Sowjetbolschewismus in Deutschland. Das können nicht einmal Sie als Sozi leugnen.«

»Sie werden noch an mich denken, Herr Klein. Die Pläne für eine Wiederholung des Preußenschlags liegen in einer Schublade der neuen Regierung bereit und müssen nur wieder hervorgeholt werden.«

»Sie haben nichts gelernt, Herr Bärnbach. Wir leben in einer neuen Zeit und nichts wird uns aufhalten. Im Übrigen darf ich Sie daran erinnern, dass Ihre Äußerungen an Volksverrat grenzen und darauf steht seit Neuestem die Todesstrafe. Überlegen Sie sich gut, was Sie sagen ...«

Klein unterbrach sich und beugte sich jetzt ebenfalls vor. Sein Gesicht trat in den Lichtkegel und Kurt sah in zwei eng beieinander liegende, unbarmherzige Augen, die in einem gewissen Widerspruch zu der warmen, tiefen Stimme standen. Das Gesicht war rund und massig. Zwischen den pausbäckigen Wangen lugte eine kurios kleine Nase hervor, die von den beide Fleischbergen rechts und links fast erdrückt wurde.

»Sind Sie im Besitz einer Pistole?« Klein stellte diese Frage in scharfem Tonfall. Seine Augen verengten sich zu kleinen Schlitzen.

»Wie kommen Sie denn darauf?«

»Beantworten Sie einfach meine Frage.«

»Sie waren aber doch Leutnant beim Militär und sind als Reserveoberleutnant entlassen worden.«

»Ich habe mich schon lange vom Militär verabschiedet und habe alles zurückgegeben. Darüber gibt es sicher Belege bei den Wehrämtern.«

»Aber Sie können als Offizier sicher gut schießen?«

»Ich verstehe nicht, auf was Sie hinauswollen.«

Klein lehnte sich wieder genüsslich in seinen Stuhl zurück.

»Sie werden gleich verstehen. Der Marinesturmmann wurde mit einer Wehrmachtspistole getötet. Der hinterhältige Schuss kam aus Ihrer Richtung und wurde aus nächster Nähe abgefeuert. Ich wiederhole, der Schuss war hinterlistig, feige und niederträchtig. Sie sagten mir vorhin, dass Ihre Mutter Jüdin ist …«

Kurt sprang erregt auf.

»Jetzt machen Sie aber einen Punkt. Sie wollen doch wohl nicht behaupten, dass alle Juden niederträchtig und heimtückisch sind und ich deswegen auch so gehandelt haben soll.«

»Jetzt regen Sie sich nicht auf und setzen sich wieder hin. Es ist ein Indiz. Nicht alle Juden sind so, aber viele. Und es könnte doch sein, dass Sie…«

»Ich verbitte mir solche Unterstellungen!«, unterbrach Kurt den Kommissar und setzte sich sprachlos geworden mit offenem Mund wieder hin.

»Tatsache ist, dass der Schuss aus Ihrer Richtung kam und Sie mit Pistolen umgehen können. Das können Sie nicht abstreiten. Und Tatsache ist auch, dass Sie jemand gesehen hat, wie Sie sich in einer dunklen Ecke versteckt und irgendetwas in der Hand hatten, das Sie in Richtung des SA-Mannes hielten.«

Kurt erkannte plötzlich, wie gefährlich die Situation für ihn war und wog jedes Wort ab.

»Ich hatte mich mit dem verletzten Max Penske in den Hausflur zurückgezogen, weil überall geschossen wurde, und ich nicht getroffen werden wollte. Das ist doch verständlich. Ich hatte meinen Freund in der einen Hand und vielleicht ein Tuch, mit dem ich seine Wunde versorgte, in der anderen. Aber keine Pistole. Ich schwöre, bei Gott.«

»Und warum haben Sie sich dann so klammheimlich aus dem Staub machen wollen?«

»Wie bitte? Ich habe mich nicht heimlich weggeschlichen, sondern habe versucht, meinen Freund so schnell wie möglich in ein Krankenhaus zu bringen.«

»Sie haben nicht aus Versehen bei der Schießerei, die Sie veranstaltet haben, ihren Reichsbanner-Kameraden selbst angeschossen und sind dann abgehauen?«

»Das ist doch völlig irrsinnig. Entschuldigen Sie, Herr Klein, das glauben Sie doch selbst nicht.«

»Was ich glaube, Herr Bärnbach, ist unerheblich. Für mich zählen nur Tatsachen. Für heute sind wir fertig. Halten Sie sich zu unserer Verfügung und verlassen Sie Berlin nicht. Sie werden von uns hören.«

Benommen verließ Kurt Bärnbach das Polizeipräsidium, ihm schwante nichts Gutes für die nächste Zukunft, zu sehr waren die Behörden offenbar bemüht, ihm irgendetwas anzuhängen. Es war ihm klar geworden, dass er auf einer vorbereiteten schwarzen Liste gestanden haben musste. Es fehlte nur noch der Anlass, um ihn ausschalten zu können. Und auf der Liste stand sicher nicht nur sein Name. Er und seine Freunde mussten auf der Hut sein. Die Nazis würden jede sich ihnen bietende Gelegenheit nutzen, um zuzuschlagen und ihrem Ziel ein Stückchen näher zu kommen.

...........

3. Kapitel (S112-130)

Das Böse ist nicht radikal, aber immer extrem. Es hat keine Tiefe, sondern wuchert wie ein Pilzgeflecht an der Oberfläche. Aber noch in seiner abgeschmackten, geistlosen Oberflächlichkeit verwüstet es die Welt und hat eine verheerende Wirkung auf jeden Betroffenen. Es verkehrt Wahrheit in ihr Gegenteil. Die fortwährenden Verletzungen, welche die Gesellschaft dem Einzelnen zufügt, schwächen seine Widerstandskraft, bis er die Wahrheit nicht mehr zu erkennen vermag. Wahrheit wird Lüge und die vernarbenden Wunden verwandeln sich zu Chiffren der vermeintlichen Wahrheit, die das oberflächliche Pilzgeflecht nähren.

Am 15. Septembers 1935, als anlässlich des 7. Reichsparteitags der NSDAP das Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre und das sogenannte Blutschutzgesetz einstimmig vom Reichstag angenommen worden war, prallten für Kurt an ein-und-demselben Tag extrem Böses und außergewöhnlich Gutes unverhofft aufeinander.

Er saß, wie fast jeden Tag, in seinem Stammkaffee und arbeitete an einem Zeitungsartikel, den er am nächsten Tag abliefern sollte, als der Reichstagsbeschluss im Radio verkündet wurde. Elektrisiert fuhr er hoch. Dies war keiner der kleinen Schritte, sondern ein riesiger Sprung tiefer in die Barbarei hinein.

Mit ihm war eine junge Frau aufgesprungen und hatte sich erschrocken an den Kopf gefasst. Beide sahen sich fassungslos an und schüttelten wortlos den Kopf.

Die Frau gewann als erste die Fassung zurück und sagte ins Leere hinein: »Das ist die Apokalypse!«

Dann setzte sie sich wieder und starrte vor sich hin.

»Absolut!«, sagte Kurt mehr zu sich als zu der Frau gewandt, »es war bisher schon nicht leicht für die Juden, aber was jetzt kommen wird, wird alle Vorstellungen übertreffen.«

»Ich hab‘s doch gleich gesagt«, murmelte die Tischnachbarin mit gesenktem Kopf vor sich hin. Dann hob sie plötzlich den Kopf, als ob ihr ein wichtiger Gedanke gekommen wäre. Ihr Blick wanderte durch das fast leere Café und blieb bei Kurt haften. Sie musterte ihn von oben bis unten. Nach kurzem Zögern hob sie leicht die Hand und zeigte auf einen leeren Stuhl an ihrem Tisch.

Kurt betrachtete sie nun auch genauer. Er schätzte ihr Alter auf Mitte Zwanzig. Sie war modisch gekleidet und trug das schwarze, kräftige Haar in Form einer gewellten Klippfrisur, aus der sich eine kleine Haarlocke gelöst hatte, die keck in die Stirn ihres weichen, rundlichen Gesichts fiel. Die Augen unter den kräftigen Augenbrauen waren tiefschwarz geschminkt und der Mund leuchtete dunkelrot.

»Wollen Sie sich für einen Moment zu mir setzen?«

»Gerne. Mein Name ist Kurt Bärnbach.«

»Ich heiße Olga Teska. Ich habe beobachtet, dass Sie vorhin entsetzt aufgesprungen sind. Verraten Sie mir, was diese Reaktion ausgelöst hat? Nicht alle Reichsdeutschen finden das Gesetz, das Juden und Nichtjuden verbietet, Geschlechtsverkehr zu haben, entsetzlich.«

Olga hielt in der rechten Hand eine lange Zigarettenspitze und machte einen tiefen Zug.

Kurt überlegte, ob er der Wildfremden ehrlich antworten sollte.

Sie spürte sein Zögern und lächelte ihm aufmunternd zu.

Kurt sah ihr ins Gesicht, beobachtete, was sich darin abspielte. Ihre Augen hielten seinem fragenden Blick stand. Nicht überheblich, aber furchtlos und selbstbewusst. Ihre Bewegungen waren von natürlicher Anmut, ohne das Bedürfnis, wirken zu wollen, ohne jegliches Kalkül. Er glaubte, ihr trauen zu können. Er entschloss sich, mit offenen Karten zu spielen.

»Ich finde, es geht den Staat nichts an, wer sich in wen verliebt, wer mit wem ins Bett geht. Das Gesetz ist schauderhaft böse und die dahinterstehende Rassenideologie ist unerträglich und folgenschwer ...«

Kurt unterbrach sich. Er suchte nach einem Zeichen in ihrem Gesicht, das ihm sagte, was sie dachte.

»Reden Sie ruhig weiter«, sagte Olga, »von mir haben Sie nichts zu befürchten. Ich bin keine Nationalsozialistin.«

»Davon gehe ich aus. Sonst hätten Sie vorhin sicher nicht so ein erschrockenes Gesicht gemacht. Aber man weiß nie in diesen Zeiten. Hinter jedem Lamm kann sich ein Wolf verbergen.«

»Hübsch gesagt. Hat Hitler nicht den Spitznamen ‚Wolf‘?«

Kurt nickte.

»Ja, so wird er unter der Hand genannt.«

»Aber jetzt verraten Sie mir bitte auch noch den Grund ihrer Empathie für Juden. Die Juden und Jüdinnen sind doch zum Hassobjekt der Deutschen geworden.«

»Meine Mutter ist Jüdin, also bin ich unmittelbar von dem Gesetz betroffen. Aber das ist nur die formale Seite. Dieses Gesetz mischt sich in die intimsten Dinge der Menschen ein. Angenommen, ich hätte mich in Sie verliebt, das Gesetz würde mir jeden sexuellen Kontakt mit Ihnen verbieten. Das wäre bar jeder Menschlichkeit, herz- und seelenlos ... Ich meine das natürlich nur hypothetisch.«

Olga grinste in sich hinein.

»Natürlich, ich verstehe, was sie ausdrücken wollen. Ein interessantes Beispiel, um das Gesetz zu veranschaulichen. Bleiben wir spaßeshalber einmal kurz dabei. Wie, würden Sie sich denn verhalten, wenn das kein hypothetisches Beispiel wäre?«, fragte sie und schaute ihn mit herausfordernden Augenaufschlag an.

Kurt räusperte sich.

»Wie meinen Sie das?«

»Ich meine das so, wie ich gefragt habe. Die Frage ist doch eigentlich unmissverständlich und …«

Kurt unterbrach sie.

»… ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll, ohne unhöflich zu sein.«

»Sagen Sie doch einfach die Wahrheit. Es tut in dieser Zeit der Lügen gut, die Wahrheit zu hören.«

Kurt zögerte kurz, sah sie entwaffnend lächeln und sagte: »Sie lassen mir keine Wahl. Die Wahrheit ist: Ich würde mich einen Dreck um das Gesetz scheren.«

»Na also, so grausam ist die Wahrheit doch gar nicht. Würden Sie für ihre Wahrheit auch eine Strafe auf sich nehmen?«

»Ich würde das Gesetz ignorieren und trotz noch so grausamer Strafen meine innersten Gefühle nicht verraten.«

»Oha!«, sagte sie augenzwinkernd. »Was wäre, wenn ich Sie dann aber anzeige?«

»Dann hätte ich Pech gehabt.«

»Keine Angst, dass ich Anzeige erstatte. Ich selbst bin Jüdin, weshalb das Gesetz für uns beide keine Bedeutung hätte. Wir könnten ungestraft machen, was wir wollten. Wäre das in unserem Fall nicht eine gute Nachricht?«, fragte sie ironisch.

Kurt wog den Kopf hin und her.

»Wenn Sie es unter diesem Aspekt sehen wollen, ja. Aber andererseits …«

Olga hinderte ihn daran, den Satz zu beenden.

Sie beugte sich über den Tisch zu ihm hin. Sie legte einen Finger auf seinen Mund, sah ihm schmunzelnd in die Augen und rezitierte in einer Art Sprechgesang leise ein Gedicht von Kurt Tucholsky:

Manche tanzen manchmal wohl ein Tänzchen

immer um den heißen Brei herum,

kleine Schweine mit dem Ringelschwänzchen,

Bullen mit erschrecklichem Gebrumm.

Freundlich schaun die Schwarzen und die

die sich früher feindlich oft bedrohten.

Jeder wartet, wer zuerst es wagt,

bis der eine zu dem andern sagt:

„Schließen wir nen kleine Kompromiss!

Davon hat man keine Kümmernis.

Einerseits – und andrerseits –

so ein Ding hat manchen Reiz …

Sein Erfolg in Deutschland ist gewiss:

Schließen wir nen kleinen Kompromiss!“

 

Seit November tanzt man Menuettchen,

wo man schlagen, brennen, stürzen sollt.

Heiter liegt der Bürger in dem Bettchen,

die Regierung säuselt gar so hold.

Sind die alten Herren auch rot bebändert,

deshalb hat sich nichts bei uns geändert.

Kommts, dass Ebert hin nach Holland geht,

spricht er dort zu seiner Majestät:

„Schließen wir nen kleinen Kompromiss!

Davon hat man keine Kümmernis.

Einerseits – und andrerseits –

so ein Ding hat manchen Reiz …“

Und durch Deutschland geht ein tiefer Riss.

Dafür gibt es keinen Kompromiss!

 

Olga lehnte sich wieder in ihren Stuhl zurück und verschränkte aufreizend die Arme vor der Brust.

Kurt sah die Frau, die ihm völlig entspannt gegenüber saß, eine Zeitlang prüfend an. Ihre wohlklingende, melodiöse Stimme hallte noch in ihm nach. Er wusste nicht, wie er das frische und ungezwungene Auftreten dieser jungen, hübschen Frau, die sich über alle Konventionen hinwegsetzte, einschätzen sollte.

»Sind Sie von Beruf Sängerin oder Schauspielerin? Sie haben eine wunderbare Stimme. Wenn man Sie hört, könnte der Text fast zur Nebensache werden.«

»Das sollte er aber nicht. Trotzdem, danke für das Kompliment. Nein, ich bin keines von beidem. Ich habe Kunst studiert und bin Malerin. Aber die Malerei ist leider ziemlich brotlos, zumal ich mit meinen Bildern nicht dem nationalsozialistischen Kunstgeschmack entspreche. Ich habe früher ein bisschen gesungen, um Geld zu verdienen. Jetzt, wo deutsche Tugend und Anstand auf dem Vormarsch sind, macht auch das keinen Spaß mehr. Ich verdiene heute mein Geld überwiegend mit Bildern und Grafiken für die Werbeindustrie. Und was machen Sie? Ich sehe Sie hier immer schreiben.«

»Ich bin Journalist, aber es gibt kaum noch Zeitungen, die meine Artikel wollen. Außerdem bin ich in der von Tucholsky so geschmähten kompromisslerischen SPD, beziehungsweise war ich in ihr, bevor sie verboten wurde. Ich versuche jetzt bei meinen Genossen mehr Kompromisslosigkeit anzumahnen, damit die Menschlichkeit nicht ganz unter die Räder kommt.«

Olga schenkte ihm ein Lächeln.

»Das ist gut. Sehr gut.«

Sie redeten bis in die Nacht hinein.

Es war eine gefühlte Ewigkeit her, seit er so unbefangen, so befreit und so geistreich mit jemandem hatte reden können. Sie lachten viel an diesem so unbarmherzigen Tag. Und sie fühlten sich glücklich an diesem unglücklichen Tag. Und je länger sie zusammen waren, desto mehr breitete sich das wärmende Gefühl gegenseitigen Vertrauens aus, das jegliche Unsicherheit, jeden Argwohn und unausgesprochenen Verdacht auflöste.

Als Olga die Tür zu ihrer kleinen Drei-Zimmer-Wohnung öffnete, strömte Kurt der Duft von Ölfarben und Terpentin entgegen und es kam ihm vor, als öffnete sich ihm ein Tor zum Himmel, in dem das Böse der Welt keinen Zutritt hatte. Die Wände waren übersät mit Bildern, selbstgemalt und von Malerfreunden. Als er an dem Zimmer vorbeikam, das ihr als Atelier diente, sah er ein fast vollendetes Bild auf der Staffelei. Es erinnerte ihn an das Bild von Jeanne Mammen, das er erst neulich in einer privaten Galerie gesehen hatte. Es zeigte eine junge Frau in Männerkleidung, die selbstbewusst auf einem Kneipenstuhl posierte und alle Männerblicke auf sich zog.

Olga hatte ebenfalls ein junge Frau gemalt, die unschwer als sie selbst erkennbar war. Sie stand auf einem Tisch in einer Bar. Sie trug weite Hosen, die Bluse tief aufgeknöpft, auf dem Kopf eine Schiebermütze. Das rechte Bein war leicht angewinkelt, die eine Hand in die Hüfte gestemmt, in der anderen hielt sie eine Zigarettenspitze, die sie sich gerade an den Mund führte. Sie blickte herausfordernd auf die Besucher des Lokals herunter. Es war nur von Männern besucht. Die meisten sahen uninteressiert und gelangweilt in ihr Glas Bier. Rechts neben die Frau hat sie, eher schemenhaft, eine Gruppe von Männern postiert, die, braun behemdet mit roten Hakenkreuzbinden an ihren Oberarmen, lüstern auf die geöffnete Bluse glotzten.

Fasziniert verharrte Kurt vor dem Bild. Olga zog ihn mit der Bemerkung weiter, zu dieser Zeit sei das Museum geschlossen. Sie setzten sich in das Wohnzimmer und Olga öffnete eine Flasche Sekt und prostete ihm zu.

»Schön, dass wir uns begegnet sind.«

»Schön, dass es in dieser falschen Welt auch gutes Leben gibt«, sagte Kurt.

Sie fanden in dieser Nacht die Liebe, die unter der Oberfläche verborgen war, wie Wasser unter Eis.

Als Kurt im ersten Morgengrauen aufstand, um seinen Artikel fertig zu schreiben, blickte er auf Olga, die mit nichts als ihrer Schönheit bekleidet war. Er fühlte sich in einer anderen Welt. Er konnte seinen Blick nicht von ihr lassen. Wie lange ist es her, seit ich dich kenne? Was ist geschehen, seit ich dich kenne? Warum fühle ich mich, seitdem ich dich kenne, ohne deine Nähe verlassen?

Er war gerade dabei, sich in den himmelhohen Luftschlössern der Verliebtheit genüsslich einzurichten.

Unmittelbar nach der Olympiade, nachdem die zahlreichen ausländischen Gäste abgereist waren, nahm der Druck auf die jüdische Bevölkerung wieder zu. Die Anzahl der 'Entrechtungsmaßnahmen' gegen die Juden war fast endlos. Sie wurden von allen öffentlichen Ämtern ausgeschlossen, aus Krankenhäusern, Apotheken und Ausbildungsstätten vertrieben. Alle jüdischen Ärzte verloren zunächst die Krankenkassenzulassung, dann die Zulassung zur Berufsausübung. Das gleiche Schicksal traf Rechtsanwälte und andere Berufsgruppen, und auch die ‚Arisierung‘ von Betrieben begann im großen Stil. Bis Ende 1938 spitzte sich die Ächtung und Stigmatisierung der Juden immer mehr zu. Männer mussten Israel, Frauen Sara als zweiten Vornamen annehmen. Für Juden wurde eine besondere Kennkarte eingeführt und eine Judenkartei, die alle Juden erfassen sollte, – der erste Schritt zur systematischen Verfolgung der Juden. Juden wurde der Besuch von Theatern und Kinos verwehrt, und jüdischen Kindern wurde untersagt, deutsche Schulen zu besuchen. Die Legende von der jüdischen Weltverschwörung wurde propagandistisch ausgeschlachtet. Im November schließlich erreichte die Hetze, geschürt durch SA und SS, ihren ersten, vorläufigen Höhepunkt und entlud sich in einem barbarischen Pogrom, nachdem auf den der NSDAP angehörenden Legationssekretär Ernst Eduard vom Rath in der Deutschen Botschaft in Paris ein Attentat verübt worden war.

Verlust und Beklommenheit bestimmten das Lebensgefühl von Kurt und Olga. Das öffentliche Leben wurde zur Qual. Je stärker der Druck der Straße mit seinen täglichen Diskriminierungen sie belastete, desto inniger schmiegten sie sich aneinander. Waren es am Anfang ihres Zusammenseins die Stärken des anderen, die sie verführten, so waren es jetzt mehr die Schwächen des anderen, in der ihre Liebe gründete und ihre Liebe wurde tiefer und beständiger.

Aus Anlass des zwanzigsten Jahrestages der Novemberrevolution von 1918 hatte Meergans, ein befreundeter jüdischer Galerist, eine Ausstellung organisiert mit dem Titel Starke Frauen von Hannah Höch bis Lotte Laserstein. Kunst von Dada bis heute. Er hatte Olga gefragt, ob sie über die Collage von Hannah Höch Schnitt mit dem Küchenmesser Dada durch die letzte Weimarer Bierbauchkulturepoche Deutschlands aus dem Jahr 1919 referieren würde. Sie hatte gerne zugesagt und sich mit Eifer vorbereitet.

Die Galerie war nur etwa zwanzig Minuten von ihrer Wohnung entfernt. Sie ging deswegen zusammen mit Kurt zu Fuß. Auf der kurzen Wegstrecke spürten sie, dass etwas anders war als sonst, konnten es aber nicht deuten. Außer dass mehr Lastwagen mit SA-Leuten unterwegs waren, fiel ihnen nichts auf.

Die alteingesessene Galerie David Meergans war gut besucht. Nach einer kurzen Einführung bat der Galerie-Besitzer die Besucher vor das Bild von Höch, das er für diese Ausstellung als Leihgabe gewinnen konnte, und forderte Olga auf, mit ihrem Vortrag zu beginnen. Sie sah kurz zu Kurt, der ihr aufmunternd zunickte, und trat an ein kleines Rednerpult, das rechts neben dem Bild aufgestellt war.

Ich bin keine Rednerin, sondern Malerin, und ich bin eine Frau und kein Mann, wie Sie unschwer feststellen können. Verzeihen Sie also, wenn nicht alles so geschliffen, so gewählt und diplomatisch klingt, wie sie es von gebildeten Männern gewohnt sein mögen. Aber es ist deswegen nicht weniger wahr, was ich sage. Außerdem denke ich, es ist angebracht, dass eine Frau über Hannah Höch spricht und nicht ein Mann. Anders als ihre männlichen Dada-Kollegen, die politische Aussagen in ihren Arbeiten in den Vordergrund stellen, thematisiert Höch in ihren Bildern, wie kaum eine andere, die Entwicklung der modernen Frau und ihre politische und gesellschaftliche Befreiung aus den engen Konventionen und sozialen Rollenvorstellungen der Kaiserzeit.

Das heißt natürlich nicht, dass sie nicht auch politisch ist. Gerade in der Fotomontage ‚Schnitt mit dem Küchenmesser‘ reflektiert sie die Zeit des Übergangs vom Kaiserreich zur Weimarer Republik, als eine Zeit des Umbruchs und großer ökonomischer, technologischer und politischer Veränderungen für die Gesellschaft, in der die traditionellen Definitionen der Geschlechterrollen an Legitimation verloren.

Nehmen wir das Beispiel Kaiser Wilhelm II., der in sehr statischer, hölzerner Haltung in der oberen Ecke des Bildes dargestellt wird und die Erstarrung des Kaiserreichs spiegelt. Hannah entblößt den Kaiser und lässt Generalfeldmarschall von Hindenburg sich mit dem Körper einer leicht bekleideten Tänzerin an die rechte Schulter Wilhelms schmiegen, während auf seiner linken die Arbeitslosen lasten. Ein Neugeborenes ist auf das kaiserliche rechte Auge montiert. Sie wissen vielleicht noch, dass der Kaiser die Frauen aufforderte, dem Reich möglichst viele Kinder zu gebären, und er sie dafür auszeichnete. Das Reich brauchte Kanonenfutter für seine Kriege – Erinnerungen an heute werden wach.

Kronprinz Wilhelm von Preußen trägt einen Schottenrock, unter dem Frauenbeine hervorschauen. Ich überlasse es Ihnen, das zu interpretieren. Mitten in dem Gewühl von Ereignissen hatte Hannah den Körper einer Tänzerin montiert, ihren eigenen Kopf wie einen Ball in die Luft werfend. Freischwebend, unabhängig.

Die Neue Frau, ich deutete es bereits an, war und ist ein wichtiges Schlagwort in Höchs Werk. Themen wie Gleichberechtigung, Wahlrecht für Frauen und Abtreibung, Themen also, die auf die Herausbildung einer modernen Vorstellung von Weiblichkeit abzielen, spielen bei ihr eine herausragende Rolle. Auch dafür sind Beispiele in dem Collagenbild zu finden

Olga unterbrach plötzlich ihre Rede und duckte sich hinter das Pult. Das Schaufensterglas der Galerie zerbarst. Glassplitter wirbelten durch die Luft. Pflastersteine flogen in den Ausstellungsraum. Eine Horde halbbetrunkener SA-Leute drang in die Galerie ein. Sie rissen Bilder von den Wänden und grölten: Nieder mit der undeutschen, entarteten Kunst! Judentum ist Verbrechertum!

Hass wird zur Tat. Aus geschürtem Hass entspringt geschürter Terror, dachte Kurt. Fassungslos. Entgeistert. Er lief geduckt zu Olga, nahm sie bei der Hand und zog sie ins Freie. Draußen sahen sie sich einer johlenden Menschenmenge gegenüber. Beifallsgejohle und Heilgebrüll. Wo waren die Demokraten, hier mitten in Berlin? Gab es sie noch? Die schrille Stimme des Volkes brüllte in den Nachthimmel: Gegen Dekadenz und moralischen Verfall! Für die Volksgemeinschaft! Für den Adel der Seele! Judenhure! Sperrt sie ein, die Juden! Alle! Diabolisches brach sich Bahn. Die delirierende Menge beließ es nicht bei verbalen Attacken. Sie wurde handgreiflich. Man schlug auf Olga ein und zerrte sie an den Haaren.

Kurt stellte sich ihnen entgegen und es gelang ihm, sie aus den Händen des Mobs zu befreien. Sie versuchten davonzulaufen. Olga wurde von einem großen Pflasterstein am Kopf getroffen. Sie brach blutüberströmt zusammen. Er beugte sich über sie, um sie vor weiteren Wurfgeschossen zu schützen. Die Menge krakeelte noch eine Weile, schien dann aber das Interesse an der am Boden Liegenden verloren zu haben und verließ hohnlachend den Ort ihres Verbrechens.

Olga starb in seinen Armen.

Er streichelte ihr über das bleiche Gesicht, weinte und flüsterte: »Deine Nähe, glaube mir, war der einzige Traum, den ich träumte und keinen anderen mehr.«

Die wenigen übriggebliebenen Menschen um ihn herum blickten weg, schämten sich und verschwanden in der Dunkelheit.

 

8. Kapitel
Mila Bärnbach und Filip Quirnheim 1965-1968
(S. 296-300)

Mila legte ihr Manuskript vor sich hin, strich über die leicht verknitterten Blätter und schaute selbstbewusst zu den Zuhörern hinunter. Sie lächelte ihrer Mutter zu und zwinkerte mit dem rechten Auge, als sie zu reden anfing:

Liebe Schülerinnen und Schüler, liebe Eltern und Lehrerinnen und Lehrer,

Sie haben es nicht immer leicht mit uns. Sie, die Eltern und der Lehrkörper. Aber wäre es anders, es würde etwas nicht stimmen. Die Jugend muss aufbegehren, Kritik üben und Autoritäten hinterfragen. Mein geliebter Vater, der aktiv im Widerstand war, aber leider schon lange tot ist, und meine Mutter, die hier ist, und die ich ebenso liebe, haben mir dies mit auf meinen Lebensweg gegeben. Das will ich beherzigen und rufe auch die Jugend dazu auf.

Mein Vater sagte mir einmal, als wir über den Nationalsozialismus sprachen: Die legalistisch eingestellten und autoritätsgewohnten Deutschen würden Widerstand aus der Illegalität ablehnen. Sie waren nicht mehr interessiert an Partizipation. Sie gaben ihre Verantwortung ab und hatten Lust auf autoritäre Lösungen. So konnte der Nationalsozialismus und der Totalitarismus blühen und gedeihen. Totalitarismus zielt auf die Abschaffung jeglicher Spontaneität, auf das Überflüssigmachen von menschlichem Handeln, auf die Auslöschung von Personalität und Differenz. So war das damals.

Gilt das auch für die heutige Zeit?

Ich weiß natürlich, wir leben heute in einer formalen Demokratie, und man kann das eine nicht mit dem anderen vergleichen. Dennoch: Ich behaupte, das gilt auch für heute. Wenn man sieht, dass Dinge schieflaufen, muss man den Mund aufmachen und sie anprangern. Wenn man sieht, dass Unrecht geschieht, muss man das Recht einfordern. Wenn man sieht, dass ein Gesetz den Menschen benachteiligt, wie zum Beispiel der Paragraf 218 die Frauen, dann muss dieses Gesetz geändert werden und man darf nicht einfach sagen: Gesetz ist Gesetz.

Ich bin prinzipiell gegen Gewalt bei der Durchsetzung von demokratischen Forderungen, aber ich bin gleichzeitig der Meinung, dass man nicht alles hinnehmen muss, was einem aufgetischt wird. Die Soziologen haben dafür den Begriff der strukturellen Gewalt erfunden. Also eine Gewalt, die legal, etwa durch Gesetzestexte, Menschen benachteiligt und Ungerechtigkeiten produziert. Wenn man nur murrt, passiert nicht viel. Manchmal muss man mehr als murren.

Mila spürte, dass die Zuhörer unruhig wurden. Sie lächelte. Sie hatte das eingeplant und auch gewollt.

Sie mögen das nicht hören. Aber es geht bei den ganzen Auseinandersetzungen um Gewalt nicht nur darum, für oder gegen Gewalt zu sein, sondern darum, die Voraussetzungen zu diskutieren, durch die Gewalt produziert wird. Es geht darum, Stellung zu beziehen, wie Deutschland – und die Welt – nach 1945 zementiert wurde. Unsere Gesellschaft schläft und hüllt sich in Schweigen. Es wird höchste Zeit, diese Stille zu durchbrechen. Wer Verantwortung für die Demokratie hat – und das sind wir alle –, der darf nicht länger hinnehmen, dass alte Nazis und andere Rechtsradikale unser Geschick mitbestimmen können. Der darf Kriege nicht gutheißen und muss Kolonialismus verdammen.

Die Unruhe, die sich unter Studenten und Schülern ausbreitet, ist eine produktive Unruhe. Die Kriegsgeneration, also Sie, liebe Eltern, sollte nicht mit Entsetzen und Ratlosigkeit auf die Provokationen der jungen Generation reagieren. Sie will nichts anderes, als das kritisch in Frage zu stellen, über das Sie nicht reden wollen.

Keiner weiß besser als ich, dass es Ausnahmen gab und gibt. Mein Vater war solch eine Ausnahme. Aber die große Mehrheit zieht sich in ihr privates Kämmerlein zurück und sagt, lass die mal machen, die Regierung, die Autoritäten.

Wir waren doch auf dem Gymnasium, um zu lernen, Fragen zu stellen, einen Diskurs zu führen, Argumente abzuwägen.

Ist es ein Zufall, dass diejenigen, die sich heute gegen die Erstarrung das Systems auflehnen, genauso alt sind wie der Staat selbst, in dem sie aufgewachsen sind?

Ich glaube nicht. Wir haben nur diese Republik erlebt, die uns anödet, die uns keine Perspektiven bietet, die uns verkrustete Institutionen hinterlassen hat, die mündigen Bürgerinnen und Bürgern keine Luft zum Atmen lassen. Deswegen müssen wir raus aus den Häusern und auf die Straße gehen. Wir Schüler und Schülerinnen müssen uns Gehör verschaffen! Wir wollen mitbestimmen, wenn es um unsere Zukunft, wenn es um unser Leben geht. Das rufe ich insbesondere auch meinen Mitschülerinnen zu, wenn wir nun gemeinsam die Schule verlassen. Bringt euch ein! Wir Frauen sind diejenigen, die am meisten unter der strukturellen Gewalt zu leiden haben. Lasst uns gemeinsam die überholten, die autoritären Strukturen an Schulen und Universitäten reformieren, damit wir und unsere eigenen Kinder eine bessere Zukunft haben werden. Wir wollen und werden die Zukunft mitbestimmen, überall dort, wo es uns nach der Schule hin verschlägt.

Ich wünsche allen meinen Mitschülerinnen und Mitschülern viel Glück und Spaß im Leben.

Mila hob kämpferisch die Faust in die Höhe und lächelte ins Publikum.

Die anwesenden Abiturienten und Schüler trampelten mit den Füßen, klatschten und jubelten. Die Eltern und die Lehrerschaft waren zunächst überwiegend ratlos, wie sie sich verhalten sollten. Nur Einzelne klatschten. Darunter war der Vertrauenslehrer, der Philosophie und Ethik unterrichtete und bei vielen Schülerinnen und Schülern angesehen und beliebt war. Man sah ihm an, dass er stolz auf seine Schülerin war. Und das sah man auch Milas Mutter an. Sie war hingerissen von ihrer Tochter und hatte sogar feuchte Augen, so gerührt war sie von dem mutigen Vortrag und der Ehre, die sie ihrem Vater angetan hatte.

Mila blickte zu ihrer Mutter und als sie sah, wie begeistert sie ihr Rede aufgenommen hatte, warf sie ihr eine Kusshand zu und winkte mit ihrem Manuskript in der Hand.

Erst als die Jugendlichen nicht aufhörten zu klatschen, entschlossen sich auch die Erwachsenen, Mila verhaltenen Beifall zu zollen.

 

 

 

 

 


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© Henning Schramm