Am 18. Mai 1848 trat in Frankfurt zum ersten Mal die

deutsche Nationalver-sammlung zusammen.

Es war die Geburtsstunde der deutschen Demokratie. Sie überlebte nur etwas mehr als ein Jahr bis zur Kapitulation der Freiheitskämpfer in der badischen Festung Rastatt vor den preußischen Truppen am 23. Juli 1849.

1933 hat »der Nationalsozialismus in der Demokratie mit der Demokratie die Demokratie besiegt.« So Hitler im Originalton.

Heute im Jahr 2023 ist die Demokratie in Deutschland und vielen anderen Staaten der Welt wieder bedroht und von populistischen Ideologien durchsetzt oder hat sich bereits hin zu illiberalen, autokratisch-populistischen und faschistischen Staatsformen entwickelt. Es lohnt sich also, genauer hinzusehen und deren Charakteristika herauszu- arbeiten.

Es ist Zeit die Demokratie neu mit Leben zu füllen.

 

Leserempfehlung: DEMOKRATIE LEBEN!

"...Geradezu eine Pflichtlektüre für politische Bildung in der aktuellen Situation." (Herbert Kramm-Abendroth)

 

 

Das Buch öffnet die Augen für das, was wichtig ist im Leben.
"Wenn wir Neues schaffen wollen, müssen wir uns von dem bloß passiv-betrachtenden Denken, dem Zukunft fremd ist, lösen. Wir müssen den Willen zum Verändern der Welt,in der wir leben aufbringen und den Mut haben, unser Wissen und Denken auf die noch ungewordene Zukunft ausrichten."
(aus: GUTES LEBEN, S. 330)

 

Spannender histori-scher, biografischer Roman über Olympe de Gouges: Warum nicht die Wahrheit sagen.

»Ich bin eine Frau. Ich fürchte den Tod und eure Marter. Aber ich habe kein Schuld-bekenntnis zu machen. Ist nicht die Meinungs-freiheit dem Menschen als wertvollstes Erbe geweiht?«

So verteidigte sich Olympe de Gouges vor dem Revolutionstribunal in Paris. Eine kompromisslose Humanistin, eine sinnliche, lebenslustigeund mutige 

Frau, die der Wahrheit unter Lebensgefahr zum Recht verhelfen will und als erste Frau in der Geschich-te  auch für das weibliche Geschlecht die Bürger-rechte einfordert. Die Zeit vor und während der Französischen Revolution gewinnt in dieser historisch-authentischen Gestalt Lebendigkeit und atmosphärische Dichte.

 

Piano Grande
Ein Roman über die Liebe in Zeiten der Krise.

Der Roman Piano Grande

zeichnet ein eindringliches Porträt des ersten Jahr-zehnt dieses Jahrhunderts, in dem die Finanz- und Wirtschaftskrise die Welt an den Rand des Abgrunds brachte.

Der Roman wirft auf dem Hintergrund einer großen Liebesgeschichte "einen sezierenden Blick auf die Gesellschaft und ihre Eliten..., die die Welt im Jahr 2008 in eine wirtschaftliche Kata-strophe geführt haben ..." (Wetterauer Zeitung)

 

Als vertiefende Ergänzung zu dieser Wirtschafts- und Finanzkrise empfehle ich Ihnen meinen Essay: Demokratischer Marktsozialismus. Ansätze zu einer bedürnisorientierten sozialen Ökonomie.

 

(Käthe Kollwitz)

 

Was ist das für ein demo-kratisches System, das unfähig ist, den Mord-versuch vom 6. Januar 2021 an ihrer Demokratie zu ahnden?

Unter Nice-to-now habe ich für Sie Ausschnitte aus der Rede von Trump zur Wahl und den Sturm auf das Kapitol zusammen-gestellt.

 

Besuchen Sie auch meine Autorenseite Henning Schramm  auf Facebook. Ich würde mich freuen, wenn sie Ihnen gefällt.

 

Ich möchte mich auch über das rege Interesse an meiner Homepage mit über 400.000

Besucherinnen und Besuchern bedanken.

Lesprobe aus Kapitel 1 und 3

 

1

 

 

Das rechte Vorderrad des roten Porsche schliddert über den unbefestigten Seitenstreifen. Staub und loses Geröll wirbeln auf. Hannah treibt das Cabriolet rücksichtslos über die kurvenreiche Bergstraße.
Michel Angelo sitzt angespannt neben seiner Frau und stemmt seine Füße gegen das Bodenblech des Wagens. Er schüttelt den Kopf und sieht sie verständnislos an.
»Fahr bitte langsamer.«
Hannah bleibt unbeeindruckt. Sie murmelt Unverständliches vor sich hin, schleudert ihm einen bitterbösen Blick entgegen und drückt auf das Gaspedal. Der Motor heult auf. Als sie in eine Spitzkehre fährt, hat sie große Mühe, das Auto in der Spur zu halten.
Als Michel vor sich eine längere gerade Strecke sieht, löst sich seine Verkrampfung ein wenig und er wagt es, den Blick von der Straße abzuwenden. Er schaut auf den langgestreckten, von Bergen einge-zwängten See, der in gut vierhundert Meter Tiefe in der Abendsonne funkelt. Auf der Wasseroberfläche einige wie hingestreut wirkende Farbtupfer. Es sind Windsurfer, die zahlreich auf dem windreichen Gewässer hin und her flitzen. Am Horizont Richtung Süden breitet sich der See aus. Nicht mehr eingeengt von den schroff abfallenden Berghängen verliert er sich im Dunst der Po-Ebene.
Was ist nur in sie gefahren, dass sie wie von Furien getrieben rasen muss, fragt sich Michel.
Er kennt sie als besonnene und rücksichtsvolle Fahrerin. Heute früh noch hat sie ihn gut gelaunt und ohne Eile zum See hinunter kutschiert. Die Sonne schien von einem makellos blauen Himmel. Alles deutete auf einen schönen Tag hin. Sie hatte ihn in Salò abgesetzt, wo er geschäftlich zu tun hatte, und war dann weitergefahren, um eine Freundin zu treffen. Als sie ihn nur ein paar Stunden später wieder abgeholt hatte, war sie nicht wiederzuerkennen: missgelaunt, reizbar und stumm.
Er dreht sich seiner Frau zu und versucht ihr Gesicht zu lesen. Die sonst so ausdrucksvollen, weichen Augen, in die er sich als junger Mann Hals über Kopf verliebt hatte, starren geistlos und leer auf die Straße. Die Schönheit der südlichen Berglandschaft, für die sie so sehr schwärmt und die ein einnehmendes Lächeln auf ihren Mund zu zaubern pflegt, lässt sie gänzlich unberührt. Jetzt spiegelt ihr Gesichtsausdruck eine undefinierbare Gefühlsmischung, die irgendwo zwischen Zorn, Empörung und Verbitterung liegt.
Während Michel die Mimik seiner Frau studiert, legt sich ein kaum wahrnehmbares Lächeln auf sei-nen Mund, das ebenso Hilflosigkeit wie Verzweiflung ausdrückt. So aufgebracht, so aufgewühlt hat er sie noch nie gesehen.
Aus den Augenwinkeln beobachtet Hannah das Lächeln auf Michels Gesicht.
»Ich denke nicht, dass die Situation lächerlich ist«, sagt sie eisig.
Sie umklammert mit beiden Händen das Lenkrad und streckt streitbar ihr zierliches Kinn nach vorne. Sie beschleunigt von neuem.
»Nein, ist sie ganz und gar nicht ... Bitte, fahr langsam«, wiederholt sich Michel, »die Strecke ist wirklich gefährlich. Die Kreuze hier überall am Straßenrand sprechen für sich selbst!«
Sie lacht unheilvoll auf und schlägt mit beiden Händen auf den Lenker ein, so dass das für kurze Zeit führerlose Auto auf die linke Straßenseite gerät. Sie reißt das Steuer herum und es gelingt ihr im letzten Augenblick den Wagen zu stabilisieren.
Er unternimmt mit leichtem Pathos in der Stim-me einen letzten Versuch, sie zu vernünftiger Fahrweise zu bewegen.
»Ich habe keine Ahnung, warum du uns beide um-zubringen versuchst. Habe ich etwas Falsches gesagt oder getan? Bitte, kläre mich auf, was der Grund dei-nes unheiligen Zorns ist. Vielleicht kann ich ja etwas tun, um dich milder zu stimmen?«
Hannah bleibt stumm.
Mit quietschenden Reifen fährt sie durch eine Rechtskehre. Die Straße geht nun steil bergan. Von weitem sieht Michel die kleine Kirche, die sie gestern besichtigt haben. Sie gehört zu einem Kloster, in dem noch eine Handvoll Mönche ihr weltabgewandtes Le-ben fristen. Die Kirche Santuario della Madonna di Monte Castello klebt auf der Oberkante einer breiten Granitwand, die fast siebenhundert Meter senkrecht in den schwarzblauen See stürzt, den die letzten Son-nenstrahlen an dieser Stelle nicht mehr erreichen.
Hannah dreht ihren Kopf zur Seite und sieht ihren Mann ausdruckslos an.
»Was du tun kannst? Lass mich einfach in Ruhe.«
»Mach‘ ich, wenn du nur zur Vernunft kommst und nicht mehr so halsbrecherisch durch die Gegend rast.«
»Ich weiß ja, du dramatisierst gerne.«
»Ich dramatisiere keineswegs. Du fährst verantwortungslos, du bist unvernünftig und …«
»... so, so, ich bin unvernünftig und verantwor-tungslos. Das sagst du zu mir«, unterbricht sie ihn unwirsch. »Und was bist du? Du bist ... Ach, egal, ich hab‘ im Moment nicht die Spur von Lust, mit dir zu reden.«
Hannah bremst unvermittelt, fährt den Wagen an den Straßenrand und steigt aus.
Michel sieht seine Frau fragend an.
»Ich geh‘ zu Fuß nach Hause.«
Und nach kurzem Zögern fügt sie noch leise hinzu, so dass er Mühe hat, sie zu verstehen: »Ich bin mir nicht einmal mehr sicher, ob das überhaupt noch mein Zuhause ist.«
Sie greift nach ihrer Handtasche, die auf dem Rücksitz liegt. Ohne Michel noch eines Blickes zu würdigen, setzt sie sich zu Fuß in Bewegung.
Er schaut ihr nach und schüttelt entgeistert den Kopf.
Schließlich rutscht er auf den Fahrersitz hinüber und startet den Wagen. Als er auf der Höhe seiner Frau ist, verlangsamt er die Geschwindigkeit und fährt neben ihr her. Er bittet sie einzusteigen. Sie wendet sich demonstrativ von ihm ab und er sieht ein, dass in der jetzigen Situation jeder Versuch, ihre sibyllinischen Worte zu enträtseln, zwecklos ist. Er beschleunigt wieder. Es sind nur noch wenige Kilometer bis zu der Villa, die sie vor Jahren als Ferienwohnsitz erworben hatten.

Das einstöckige Haus liegt auf einem kleinen Plateau sechshundert Meter über dem See. Blickt man nach Osten hat man eine beeindruckende Sicht auf den gegenüber liegenden Gebirgszug des Monte Baldo und den zu seinen Füßen liegenden von urzeitlichen Gletschern geformten See. Eine Aussicht, in die sich Hannah und Michel, als sie das Haus zum ersten Mal besichtigten, sofort verliebt hatten.

Michel steht auf der großen, mit Terrakottafliesen ausgelegten Terrasse. Es weht ein kräftiger Wind aus den Bergen, der die Luft in dieser Höhe merklich abgekühlt hat. Nach der Hitze unten am See fröstelt es ihn leicht. Er geht in das Haus, um sich etwas überzuziehen. Wieder zurück im Freien lässt er sich in einen der Korbsessel fallen, die um ein kleines Tischchen am Rande des Pools gruppiert sind. Er schenkt sich einen doppelten Cognac ein und hofft, etwas Wärme und Ordnung in sein Inneres bringen zu können.

Sein Blick fällt auf die Skulptur Le Baiser, die er auf der gegenüberliegenden Schmalseite des Pools hat aufstellen lassen. Er hatte Brancusis Figur, die Mann und Frau in inniger Umarmung darstellt und deren Original auf dem Friedhof Montparnasse steht, von einem befreundeten Künstler aus ockerfarbenem Sandstein originalgetreu kopieren lassen und sie seiner Frau zum dreißigjährigen Hochzeitstag geschenkt. Und er ließ auf den Sockel, wie bei dem Original, ›lieb, liebenswert, geliebt eingravieren. So wie er bis zum heutigen Tag auch  Hannah gegenüber empfindet. Die monolithische Ausgestaltung des Liebespaares, die Brancusis Suche nach einfachen und doch zugleich spannungsreichen Formen entsprach, hatte auf Michel immer schon eine ungemein suggestive Wirkung: in sich selbst ruhend, Innigkeit, Harmonie und Sinnlichkeit ausstrahlend. So auch jetzt wieder, als er das in sich versunkene Paar betrachtet.

Die Skulptur symbolisiert jedoch nicht nur eine helle, glückliche Seite des Lebens, sondern lässt auch die Vergänglichkeit, die Zerbrechlichkeit der Liebe, die dunkle Seite des Seins, den Tod, mitschwingen. War doch Le Baiser von der lebensmüden Madame Rashewskaia in Auftrag gegeben worden, die aufgrund ihrer unglücklichen Ehe keinen Ausweg mehr für sich sah und den Entschluss gefasst hatte, aus dem Leben zu scheiden. Liebe in Erwartung des Todes. War das auch der Gedanke von Brancusi, als er die Skulptur schuf? Der Tod gehört zum Leben wie die Liebe. Beide bestimmen wesentlich die menschliche Existenz, mit dem Unterschied, dass man sich der Kraft der Liebe entziehen kann, nicht aber der Macht des Todes.

Ich will leben, nicht überleben um jeden Preis, denkt Michel.

Die Vorstellung, nicht mehr Herr seiner selbst sein zu können und ein würdeloses Dasein fristen zu müssen, in dem die Gegenwart auf Bewusstseinsaugenblicke schrumpft, in dem es keine Vergangenheit und Zukunft mehr gibt, ist ihm unerträglich. Der Gedanke, aufgrund einer Krankheit in einer Düsternis zu versinken, zurückgeworfen auf ein verkümmerndes Selbst, das ohne Verbindungslinien nach außen vor sich hin vegetiert, lässt ihn schaudern. Ja, es ist richtig, der Mensch kann dem Tod nicht entgehen, aber er kann sein Ende in die eigene Hand nehmen und die letzten Pinselstriche an seinem Selbstbildnis eigenständig setzen. Wer eine klare Vorstellung von sich hat, wem es gelungen ist, seinen Entwurf zu realisieren, wie das Michel von sich behaupten würde, wird die Konditionen seines Abgangs nicht anderen überlassen. Er wird Vorsorge für diesen Fall treffen. So war es für ihn nur konsequent, frühzeitig Kontakte zu einer Organisation mit Hauptsitz in Forch in der Schweiz zu knüpfen, um für den letzten Schritt vorbereitet zu sein. Er hat sich des Öfteren in detaillierten Bildern ausgemalt, wie sein Lebensende aussehen soll: Die Musik der Beatles, oder vielleicht auch eine Symphonie von Beethoven füllt die Räume seines Hauses am Gardasee. Sie dringt leise nach draußen auf die Terrasse, wo er in einem Sessel sitzt. Sein Blick schweift über Brancusis Liebespaar zu dem Gipfel des Baldo, er trinkt den vorbereiteten Forcher Cocktail und gleitet sanft über jene Grenze, die jeder Mensch nur einmal überschreitet.

Wie wohl Hannah über diese Dinge denkt?

Sie hat ihm nie offenbart, wie sie sich im Falle einer Lebenskatastrophe verhalten würde. Sie vermeidet Gespräche, die den Tod thematisieren.

Lass uns über etwas Schöneres reden, blockt sie solche Diskussionen ab.

Michel hat Verständnis dafür. Ist Hannah doch Halbjüdin, deren jüdische Großeltern in einem Konzentrationslager ermordet worden waren. Über ihren Vater weiß sie nur, dass er ein Goi war. Mehr konnte sie ihrer jüdischen Mutter nicht entlocken. Sie hatte Schreckliches erlebt und nur ihrem unbezwingbaren und wagemutigen Überlebenswillen hatte Hannah es zu verdanken, dass sie eine Lebenschance erhalten hatte.  

Es scheint Michel eine gewisse Logik darin zu liegen, dass Menschen mit solch belastendem Erbe in einem schwer auflösbaren Geflecht aus Schmerz, Zorn und Angst gefangen sind. Angst vor Vertrauensverlust und vor Zurückweisung. Angst auch vor allzu großer Nähe: um sich selbst nicht zu verlieren, aber auch um Verletzungen, die aus solchen nahen Beziehungen resultieren können, zu vermeiden.

In diesem Gewebe scheint ihm auch Hannah gefangen zu sein. Sie tut sich, wie sie ihm bekannt hat, schwer mit der bedrückenden Vergangenheit ihrer jüdischen Verwandtschaft und sucht, wie unter Zwang, zeit ihres Lebens nach der stimmigen Einstellung zu ihrem Selbst und nach einem adäquaten, vertrauensvollen Bezugsrahmen. Im Gegensatz zu Michel, der Einhegungen jeglicher Art ablehnt, und der an einen grenzenlos freien Geist glaubt, findet Hannah Grenzen wichtig. Die Offenheit und Unbefangenheit, die ohne das beklemmende Wissen um den mörderischen Faschismus in Deutschland Hannahs Jugend geprägt hat, ist in späteren Jahren einer behutsamen Zurückgezogenheit gewichen. Abgrenzungen und Eingrenzungen gaben ihr Sicherheit, markierten einen überschaubaren Raum, in dem sie sich selbst entfalten, und in dem sich persönliche Bindungen entwickeln und Vertrauen gedeihen konnte.

Werden die selbst gezogenen Grenzlinien durch herabwürdigendes Verhalten oder Missbrauch des Vertrauens verletzt, zieht sich Hannah sofort in sich selbst zurück. Ihre Gesichtszüge verschwimmen dann wie hinter einem Schleier und lassen sie, ähnlich dem Ausdruck, den er gerade im Auto bei ihr beobachten konnte, wie in einen Kokon eingebettet erscheinen.

Michel erlebt diese empfindsame Lebenshaltung, die beharrlich beobachtet und prüft, keineswegs als belastend. Im Gegenteil. Dieser Charakterzug spiegelt in seinen Augen nicht nur Hannahs feinnerviges Innenleben wider, sondern ebenso auch ihre hohe Sensibilität und ihr ausgeprägtes Einfühlungsvermögen. Die Verschattungen aus Hannahs Kindheit, die hie und da ihr Leben verdunkeln, konnten in der Vergangenheit die Innigkeit ihrer Beziehung nie ernsthaft gefährden. Ein großes Reservoir ähnlicher Interessen, Vorlieben und Empfindungen hat sie fest verbunden und – ihren unterschiedlichen Grundcharakteren zum Trotz – zu einem überraschend großen Einklang im Denken und Fühlen geführt.

Er nippt an seinem Cognac und denkt an das barsche Verhalten seiner Frau vorhin im Auto und die leise Drohung beim Aussteigen. Er fragt sich, wie genau er seine Frau kennt? Wie weit kann sich ein Mensch überhaupt einem anderen anvertrauen? Er hört häufig, Liebe öffne den Menschen, kehre Inneres nach außen. Aber begreift und versteht er wirklich, wie sie denkt, wie sie fühlt, was sie erschreckt, wovor sie sich fürchtet?

Sie hat ihm aus der Vergangenheit ihrer Mutter erzählt, die sie, wie sie ihm einmal anvertraut hatte, sehr belastet. Es war der Mutter erst in den späten sechziger Jahren kurz vor der Heirat ihrer Tochter möglich, über sich selbst und ihre Flucht aus dem Lager zu reden. Das was die Mutter damals ihrer Tochter anvertraute, blieb für immer in Hannah eingebrannt: Immer wieder sieht sie das kanariengelbe Gesicht ihrer Mutter vor sich, die nach ihrer Deportation in ein Konzentrationslager als Zwangsarbeiterin in eine Sprengstofffabrik geschickt wurde. Sie schreckt manchmal nachts auf, wenn sie von der ewigen Dunkelheit in ihrem Versteck auf dem Bauernhof träumt, von der immerwährenden Angst entdeckt zu werden.

Ja, sie hat sich ihm geöffnet und ihm ihre Ängste bekannt – zumindest, was diesen Teil ihrer Vergangenheit angeht. Aber was alles hat sie in der langen Zeit ihrer Ehe in ihrem Inneren fest eingeschlossen? Welche Sehnsüchte, Wünsche, geheimen Verlangen hält sie vor ihm verborgen?

Auch Michel hat sich Hannah nicht so offenbart, wie sie es vielleicht von ihm erhofft hat. Was weiß sie von ihm, aus welchen Bausteinen setzt sich ihr Bild von ihm zusammen?

Jeder Mensch hat Geheimnisse und dunkle Punkte, die während der Aneinanderreihung von Ereignissen das Leben formen und nie aufhören, sich in das Leben einzumischen. Wie oft ist er schon aus Träumen verstört aufgewacht? Aber wenn er darüber nachdenkt, welche Bedeutung diese undurchschaubaren Monster seiner Träume haben, kommt er zu keinem Resultat, das ihn befriedigt. Sie sind da. Er kann sie vor sich nicht leugnen. Er hat eine Ahnung von den Ungereimtheiten, dem Widersinnigen in seinem Leben, aber er kann sie nicht benennen, nicht greifen. Er ist überzeugt, dass es ihm weitgehend gelungen ist, diese geheimnisvollen Höllenfeuer zu zähmen, die zuweilen in sein bewusstes, waches Leben zu züngeln versuchen. Er kann sie aber nicht löschen. Er fühlt, wie sie unter der Oberfläche weiter schwelen und versucht, sich gegen diesen Schwelbrand mit Aktivität, mit intellektueller Attitüde, mit schauspielerischem Talent und Leistung in seinem Beruf unempfindlich zu machen.

Er wünscht sich, dass seine Zeitgenossen ihn danach beurteilen, wie er sich ihnen gegenüber darstellt, was er leistet, was er sagt, schreibt und denkt, und nicht danach, was die Menschen glauben, was er möglicherweise sein würde, wenn sie alle seine Geheimnisse kennen würden, und wenn seine psychische Matrix offen vor ihnen ausgebreitet wäre.

Für viele Menschen ist die Gegenwart nicht mehr als ein Aussichtsturm, von dem sie in die Welt, in die Vergangenheit und die Zukunft schauen, ohne wahrzunehmen, wo sie sich gerade befinden. Im Gegensatz zu diesen Menschen fühlt sich Michel im Jetzt verwurzelt. Er interessiert sich weniger für das Gestern und das Morgen, ihn fasziniert das Heute, die Gegenwart und in dieser vor allem die moderne Kunst und der Kunstmarkt. Dieser hat ihn in den letzten Jahren zunehmend in seinen Bann gezogen. Er ist die Bühne, auf der er sich auslebt und darstellt.

Michel Angelo hat seine Karriere als Verleger begonnen und sich schon früh auf die Publikation von Kunstbüchern spezialisiert. Die intensive Beschäftigung mit der Kunst hat ihn bald dazu verleitet, selbst mit Kunst zu handeln. Er eröffnete eine eigene Galerie und galt in den einschlägigen Fachkreisen schon nach kurzer Zeit als ein hervorragender Kenner des nationalen und internationalen Kunstmarktes. Die Verlagstätigkeit trat nach und nach in den Hintergrund zugunsten seiner Aktivitäten im Kunsthandel, die seiner Lust am risikoreichen Spiel entgegenkamen und ihn reich machten.

Michel verfügt nicht nur über einen hervorragenden Kunstsachverstand, sondern ist selbst auch ein exzellenter Maler. Weil ihn seine anderen Geschäfte jedoch zu sehr beansprucht haben, wie er behauptet, hat er das Malen seit langer Zeit aufgegeben, was viele in seinem Umfeld bedauert haben. Am meisten jedoch seine Frau, die, als sie sich kennenlernten, von seinem Talent sehr beeindruckt war und nie verstanden hat, warum er diese malerische Begabung verkümmern ließ.

 

Michel ist zufrieden mit dem, was er bisher geleistet hat. Er besitzt eine ansehnliche Bildersammlung, ein millionenschweres Bankkonto und neben seinem herrschaftlichen Haus in Frankfurt hier in Oberitalien einen schönen Bungalow mit einem parkähnlichen Garten und einem großen Zwanzig-Meter-Pool.

Wichtiger als diese materiellen Werte ist für ihn jedoch – was ein Beobachter seiner öffentlichen Auftritte nicht erwarten würde –, an seiner Seite eine hübsche und kluge Frau zu wissen. Er ist mit ihr seit Jahrzehnten glücklich verheiratet und überzeugt, dass ihm und Hannah bisher ein Arrangement zur beiderseitigen Zufriedenheit gelungen ist. Beide Ehepartner haben, so seine Überzeugung, durch den Anderen Anerkennung, Stärkung und sexuelle Erfüllung erfahren. Beide sind selbstbewusst ihren jeweils eigenen Weg gegangen, ohne jedoch den Anderen auszugrenzen oder zu vereinnahmen. Die Ehe bedeutet für ihn nicht Aufweichung des Individuellen oder distanzlose Verschmelzung. Dies würde seinem spontanen Charakter, seinem ausgeprägten Tatendrang, seiner Neugierde auf Neues, die sich in kein Korsett zwängen lässt, zuwider laufen. Ihm fällt ein, was Schiller einmal zu seiner großen Liebe, Charlotte von Lengefeld, gesagt haben soll: In euch zu leben, und ihr in mir - o das ist ein Dasein, das uns über alle Menschen um uns her hinweg rückt. Dieser Wunsch spiegelt nicht sein Denken wider. Für Michel ist das nichts anderes als die kleinbürgerliche Sehnsucht nach einem Leben im Uterus, nach ewiger Geborgenheit und immerwährender Abwesenheit von Einsamkeit. Zwei Menschen können verschmelzen im Liebesakt, in der Ekstase, aber nicht im Leben. Im Leben muss jeder auf seine Art kämpfen. Das Leben ist voller Unwägbarkeiten und Wagnisse. Glück und Zufriedenheit fallen nicht vom Himmel. Sie müssen dem Schicksal entrissen und, wenn es die Situation erfordert, erobert werden.

Sein Blick bleibt erneut auf dem eng umschlungenen Paar am Rande des Pools hängen. Ein wirklich beeindruckendes Kunstwerk ist Brancusi da gelungen, denkt er. Es war damals die radikale Abkehr von allem, was bisher Kunst ausgemacht hat. Der Bruch mit der Kunst als Abbildung. Ein Künstler war von da an Schöpfer und ein Kunstwerk seitdem purer Ausfluss menschlicher Kreativität und Expressivität. Er hat mit der Skulptur ein zeitloses Meisterwerk geschaffen, das dem Betrachter einen Blick in den Wesenskern des Menschen gewährt: dem Wunsch nach Nähe, Liebe, Vertrauen, Anerkennung und die Befriedigung der sexuellen Empfindungen auf der einen, sowie dem Bedürfnis nach Distanz, nach Schutz der Intimität und Innerlichkeit auf der anderen Seite. Die kantige, stehlenartige Geschlossenheit konterkariert die ineinanderfließende Verbundenheit des Paares und hält den Betrachter auf Distanz, bewahrt und beschützt das, was Mann und Frau vereint vor der Einflussnahme durch die Außenwelt. Stehen sich auch die beiden Gefühlsregungen Nähe und Distanz häufig unversöhnlich gegenüber, stoßen sich aneinander, wollen nichts voneinander wissen, so sind sie doch in jedem Menschen vereint und müssen sich jeden Tag aufs Neue arrangieren.

 

Hannah betrachtet ihren Mann, der in Gedanken versunken auf der Veranda sitzt, durch die geöffnete Glastür. Er hat sie nicht kommen hören, obwohl das laute Klacken der eisenbeschlagenen Absätze ihrer halbhohen Schuhe auf dem Steinfußboden des Wohnzimmers kaum zu überhören gewesen war. Sein schon ergrautes Haar ist, außer einer sich anbahnenden kahlen Stelle auf seinem Hinterkopf, auf der die sonnengebräunte Kopfhaut durchschimmert, von dichtem Wuchs. Sie bleibt in der Tür stehen, atmet tief die Abendluft ein und setzt sich schließlich, als sie die Sitzgruppe erreicht hat, wortlos in einen der Korbsessel. Er richtet sich erschreckt auf und sieht sie forschend an.

»Wir müssen miteinander sprechen«, sagt Hannah.

»Möchtest du etwas trinken?«, fragt er.

»Nein, ich möchte reden.«

»Gut, dann rede. Ich höre dir zu.«

Er schenkt sich noch einen Cognac ein, lehnt sich wieder in seinen Sessel zurück und sieht sie abwartend an.

 Sie sitzt ihm scheinbar gelassen gegenüber. Das Gesicht ist weiterhin ausdruckslos. Ihre Stimme ist bemüht sachlich. Lediglich ihre unruhigen Augen verraten ihre innere Erregtheit und Spuren von Zorn. 

»Während du in Salò eine Verabredung mit einem Kunden hattest, wollte ich, wie du weißt, die Zeit nutzen, um mich mit einer Freundin zu treffen, die ich schon länger nicht gesehen habe.«

Als Michel etwas sagen will, hebt sie die Hand und gibt ihm zu verstehen, sie nicht zu unterbrechen.

»Wir hatten uns im Hotel a Villa Feltrinelli verabredet. Ich hatte mich etwas verfrüht und bestellte mir in der Lounge ein Glas Wein. Als ich mich in dem monumentalen Atrio des ehemaligen Hauptquartiers von Mussolini umsah, traf mich fast der Schlag! Auf einem lebensgroßen Bild, direkt gegenüber dem Eingang und unübersehbar angestrahlt von einem Spotlight, stand ich mir nackt, ich wiederhole, splitterfasernackt gegenüber. Als ich näher an das Bild trat, sah ich, dass es eine Art fotorealistisches Gemälde deines Freundes Dembruck war. Dieser Mensch hat genüsslich und naturgetreu jede Einzelheit meines auf einer roten Chaiselongue liegenden Körpers festgehalten: Meine Brüste mit den Muttermalen, die er genau an den richtigen Stellen hingetupft hat, meine unscheinbare Blinddarmnarbe und das kleine Tattoo, das unter meinen Schamhaaren erkennbar ist, von dem nur du wissen konntest. Ich bin traurig und empört über deinen Vertrauensmissbrauch. Du hast ohne mein Wissen, ohne mich zu fragen diesem Maler offenbar ein Foto von mir gegeben, auf dem ich nackt zu sehen bin, und du hast ihm darüber hinaus auch noch intimste Details meines Körpers verraten.«

Michel nickt zustimmend.

»Ich erinnere mich«, sagt er. »Ich habe das Foto David vor etwa zwei Jahren gegeben. Es war ein altes Foto, bestimmt dreißig Jahre alt. Ich hatte es aufgenommen, nachdem wir Sex miteinander gehabt hatten. Erinnerst du dich? Ich vergötterte dich und deinen Körper. Findest du das Ölbild nicht gut? Mir gefällt es. Es ist toll gemalt, an manchen Stellen leicht verwischt, an anderen fast schärfer als die Fotografievorlage. Und offenbar gefällt es anderen auch, denn ich habe es für einen enorm hohen Preis verkauft. 150.000 Euro! Es war der Durchbruch von David Dembruck.«

Hannah steht erregt auf, geht zum Pool und wieder zurück, setzt sich, steht wieder auf, setzt sich und legt die gefalteten Hände vor sich auf den Tisch. Sie schaut ihn durchdringend an.

»Herrje, bist du wirklich solch ein Klotz oder tust du nur so? Es geht doch nicht darum, ob mir oder anderen das Bild gefällt. Du hast mich hintergangen. HIN-TER-GAN-GEN! Bevor du solch ein intimes Foto von mir herausgibst, hättest du mit mir reden müssen. Verstehst du, müssen. Was ist eigentlich über dich gekommen, mich vor fremden Menschen zu entblößen und meinen Körper zu kommentieren? Das, was Dembruck gemalt hat, konnte er nur aus deinem Mund erfahren haben. Wie meine Vagina aussieht, geht niemanden etwas an! Kannst du nicht kapieren, dass es mir schrecklich peinlich ist, mir vorzustellen, wie du mit Dembruck über mich geredet hast? Womöglich hast du ihm auch erzählt, wie sich mein Körper nach dem Liebesakt anfühlt. Hast du?«

»Nein, habe ich natürlich nicht.«

»Es kommt mir aber so vor. Wenn ich meinen Gesichtsausdruck auf dem Bild betrachte, scheint es mir, als ob er noch von dem Augenblick des zuvor Erlebten verklärt wäre. Woher kennt der Künstler mich, beziehungsweise diesen Ausdruck, so genau?«

»Er kennt ihn, weil er Künstler ist«, sagt Michel. »Er ist in der Lage, sich in die Gemütsfassung einer Frau nach einem Orgasmus hineinzudenken und ein guter Maler ist auch fähig, dies darzustellen. Es ist nicht Aufgabe der Kunst, Realität zu kopieren, vielmehr bringt der Künstler seine innere Befindlichkeit über ein Objekt, seine Vorstellungen, Visionen – oder um was für ein Sujet es sich auch immer handelt – auf die Leinwand. Ich finde, er hat dich und die Situation enorm gut getroffen.«

Hannah erhebt sich wieder und pflanzt sich vor ihm auf.

»Es geht hier nicht um Kunst, sondern um mich, verstehst du das immer noch nicht! Ich bin sehr enttäuscht von dir und auch etwas verwirrt, weil ich dir das nicht zugetraut hätte.«

Sie unterbricht sich und sieht Michel fragend an: »Wem hast du mich damals eigentlich verkauft? Wem war ich so viel Geld wert?«

»Setz dich doch bitte und reg dich nicht wieder auf«, versucht Michel zu beschwichtigen. »Nochmals, es geht bei dem Bild nicht um dich, sondern um Kunst. Wer das Gemälde betrachtet, schaut sich Kunst an und nicht die konkrete Frau, die dargestellt ist. Denk zum Beispiel an das berühmte Bild von Gerhard Richter, wo er seine Frau Emma gemalt hat. Ein schönes Bild. Und auf diesem Bild betrachtet man auch nicht die Ehefrau von Richter, sondern ein Gemälde, auf dem eine nackte Frau die Treppe herunter steigt ... Aber lassen wir das. Du wolltest wissen, wer der Käufer war. Es war ein Mann aus deiner Heimat, ein Italiener. Sein Name ist Alfredo Alesi.«

»Nein!«, ruft Hannah überrascht aus.

»Was heißt nein? Doch! Ich verstehe nicht.«

Hannah lässt sich auf ihren Sessel fallen und blickt eine Weile nachdenklich vor sich hin. Dann hebt sie den Kopf, schaut ihrem Mann in das fragende, verständnislose Gesicht und erzählt ihm von ihrer Begegnung im Hotel Feltrinelli, die das Fass zum Überlaufen gebracht hat.

»Als ich mir das Bild näher ansah, stand hinter mir plötzlich ein Mann, so nah, dass ich seinen Atem im Nacken spürte. Er fragte mich, ob mir das Bild gefiele. Als ich mich umdrehte, sah ich in eine fiese, niederträchtige Visage. Die Ausgeburt, der Idealtyp eines Gangsters: eng beieinander liegende, stechende Augen, pomadeglänzendes, streng nach hinten gekämmtes Haar und, wie kann es bei solch einem Typen anders sein, klein und fett. Er stellte sich mir vor und ließ mich wissen, dass er das Bild dem Hotel ausgeliehen habe. Dieser Alesi sprach in höchsten Tönen von der Frau auf dem Bild. Wie sehr sie ihm gefiele, wie leidenschaftlich sie sein müsse und wie gerne er einmal eine Nacht mit ihr verbringen würde. Er sprach von der Frau, nicht von dem Kunstwerk, verstehst du! Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie peinlich mir das war. Ich war mir sicher, dass er mich erkannt hatte, auch wenn das Foto von mir schon vor etlichen Jahren gemacht worden war ... Sag, wer ist dieser unangenehme Zeitgenosse, der vor mir ungeniert seine privatesten Sexphantasien ausbreitet? Was macht er, wenn er nicht gerade Kunst kauft und Frauen vögelt?«

»Stellst du Alesi nicht etwas zu verzerrt dar? Er entspricht, wie ich dich kenne, nicht deinem Ideal eines Mannes, aber so widerlich ist er nun auch wieder nicht.«

»Es ist mir egal, was du über ihn denkst, dieser Mensch war einfach ekelhaft und ich kann nicht verstehen, wie du mit solchen Leuten Geschäfte machen kannst. Er musterte mich von oben bis unten und erdreistete sich, mich mit süffisantem Unterton zu belehren. Soll ich es dir sagen? Ich sage es dir: Er schleuderte mir ins Gesicht, dass jede Frau ab einem gewissen Alter – und dabei taxierte er mich mit seinen stechenden Augen – nur noch von ihren Erinnerungen an ihre unwiederbringliche blühende Jugend lebe und bei Männern keine sexuellen Fantasien mehr entfachen könne. Das Feuer der Jugend sei vorbei, was könne sie einem Mann noch bieten? Und er hörte nicht auf, auf mich einzureden. Aus einem mir unerklärlichen Grund fühlte er sich auch noch bemüßigt, sein braunes politisches Gebräu vor mir auszuschütten: Benito Mussolini, den er sehr verehre, habe in dem Palast Feltrinelli, der jetzt leider ein triviales, geistloses Hotel sei, seinen Regierungssitz eingerichtet und die ruhmreiche italienische, faschistische Republik von Salò von hier aus geführt. Ihm, Mussolini, der, wie ich vielleicht wisse, schöne Frauen liebte, hätte diese attraktive, erotische Frau mit Sicherheit gefallen. Das wäre auch der Grund gewesen, warum er das Bild dem Hotel gern ausgeliehen habe. Er unterbrach sich, wechselte das Thema, sah mich mit einem forschenden Blick an und klärte mich dann auf, dass er das Ölbild Frauenakt I von einem deutschen Kunsthändler und Bonvivant für sehr viel Geld gekauft habe. Aber, fügte er großspurig hinzu, sein Geld sei gut angelegt, da der Preis des Bildes sicher noch steigen werde, und außerdem könne er sich, was sie sicher verstehen werde, nicht satt sehen an diesem vollendeten Frauenkörper.

Wie du dir vielleicht denken kannst, verschlug es mir die Sprache bei diesen unverschämten und rechtsradikalen Worten und ich verließ das Haus fluchtartig. Hast du eine Vorstellung, was in mir vorging? Ich, deren Großeltern von Faschisten ermordet worden waren, hänge dort in diesem Palast zu Ehren von Mussolini und werde von einem aufgegeilten Faschisten angepöbelt.«

Michel sieht seine Frau verständnisvoll an. Er kann sich vorstellen, was in ihr vorgegangen sein musste. Aber er kann sich leider nicht aussuchen, wer seine Bilder kauft und wo der Käufer sie ausstellt. Es war ein äußerst unglücklicher Zufall, dass sie hier mit dem Bild und seinem Besitzer konfrontiert wurde.

Er rutscht auf seinem Sitz unruhig hin und her und unternimmt den Versuch einer Rechtfertigung.

»Du kennst, wie ich, die harte Welt des Kunstmarktes und ich bin es meinem Freund David schuldig, seine Bilder zu einem höchstmöglichen Preis zu verkaufen. Es ist wohl auch allgemein bekannt, dass sich die Anerkennung eines Künstlers unter anderem im Preis seiner Kunstwerke spiegelt. Erklimmen die Werke eines Künstlers ein Preisniveau, das aufhorchen lässt, können es sich nicht einmal mehr die großen Museen leisten, dessen Werke zu ignorieren. Das ist das Gesetz des Kunstmarktes. Denk an Jeff Koons, dessen Arbeiten exorbitante Preise erzielen, die ihm sogar selbst rätselhaft sind. Koons versteht sein Handwerk, aber seine Werke sind zeitgebunden, die Werke von wirklich großen Künstlern sind das nicht. Wer einen Koons erwirbt, bezahlt in erster Linie für den Namen Koons und nicht für das Werk selbst. Gutes Kunstmarketing baut den Künstler so auf, dass er und seine Kunst in aller Munde sind. So habe ich in den letzten Jahren David Dembruck groß gemacht.«

»Das ist mir durchaus bekannt«, sagt Hannah. »Ich frage dich, hättest du deine Bilder auch an Hitler verkauft, nur weil er gut bezahlt? Ich hoffe nicht. Dieser Alesi ist zwar nicht Hitler, aber rechtsradikal und unappetitlich. Weißt du, ob er nicht vielleicht in irgendwelche Verbrechen verwickelt ist und er mit schmutzigem Geld bezahlt? Das alles ist schlimm genug, es ist aber nicht der Punkt, um den es geht. Ohne mein Einverständnis hättest du niemals mein privates Foto mit deinen Kommentaren an diesen Herrn Dembruck weitergeben dürfen. Ich empfinde das als schwerwiegenden Vertrauensbruch und bin tief enttäuscht von dir. Vielleicht verstehst du ja jetzt mein Verhalten vorhin im Auto.«

»Alesi hat viel Geld und gibt viel aus für Kunst, auch wenn er davon nichts versteht. Es ist bei ihm eine reine Geldanlage und …«

»… das Gefühl hatte ich bei diesem Aktbild von mir aber nicht«, unterbricht sie Michel.

»Das mag in diesem Fall so sein, aber es ist eine Ausnahme. Ich habe viel Geld durch ihn verdient und er hat, ohne dass er das wusste, den Wert von Dembruck-Bildern am Markt enorm gepusht. Mit welchen Geschäften Alesi sein vieles Geld verdient, weiß ich nicht.«

»Wie auch immer, du solltest in Zukunft diesen Dingen größere Aufmerksamkeit schenken ... Übrigens, da Dembruck mich jetzt so gut kennt, würde es mich doch sehr interessieren, wer er ist. Du hast mir bisher so gut wie nichts über deinen Freund erzählt, den du schon so lange kennst und dem du bedenkenlos solch intime Dinge von mir preisgibst. Hoffentlich ist er nicht so schmierig wie dein sogenannter ‚Kunstfreund‘ Alesi.«

»Nun, was David Dembruck angeht …«

Michel hält plötzlich inne und scheint zu überlegen, was er sagen soll. Er schaut seine Frau an, schenkt sich noch einen weiteren Cognac ein und unternimmt erneut den Versuch, Hannah zu einem Drink zu animieren. Sie schüttelt den Kopf.

Michel trinkt einen Schluck, lehnt sich zurück und legt entspannt seine Beine übereinander. Ein spitzbübisches Grinsen, das Hannah völlig unpassend scheint, legt sich auf seine Gesichtszüge, als er anhebt weiterzureden.

»Was soll ich dir sagen? Es ist in der Tat eine merkwürdige Geschichte mit diesem David. Er ist ein charmanter, sensibler Kerl. Du würdest ihn mögen. Aber leider ist er sehr menschen- und öffentlichkeitsscheu. So etwas kommt auch heute noch unter Künstlern vor, wenn auch selten! Als ich ihn vor Jahren kennenlernte, habe ich sofort erkannt, dass er ein Genie in seinem Metier ist. Ich wollte unbedingt mit ihm zusammenarbeiten. Er machte für diese Kooperation zur Bedingung, dass ich niemandem seine Identität verraten dürfe und er niemals öffentlich auftreten würde. Nur unter dieser Bedingung würde er mir seine Bilder exklusiv überlassen. Ich könnte sie ausstellen und sie für ihn verkaufen, zu anständigen Konditionen. Und ich kann sagen, ich verdiene so gut mit Dembruck, dass ich überlege, das Verlagsgeschäft ganz abzugeben, um mich nur noch dem Kunsthandel zu widmen.«

Hannah sieht ihn überrascht an. Sie hört zum ersten Mal von diesem Vorhaben ihres Mannes. In der Vergangenheit war er immer darauf bedacht, die Zügel fest in der Hand zu halten, obwohl Hannah, die seit geraumer Zeit gespürt hat, dass Michel nur noch mit halbem Herzen bei der Verlagsarbeit war, schon lange in der Lage gewesen wäre, den Verlag auch alleine oder zusammen mit ihrem Sohn zu leiten – und ihm die Bereitschaft dazu auch signalisiert hatte.

Von Beginn an war Hannah mit in die Verlagsarbeit eingestiegen und kümmerte sich mit großem Enthusiasmus schwerpunktmäßig um Autoren und Lektorat, während Michel für die Buchproduktion und das Geschäftliche zuständig war. Als ob es gestern gewesen wäre, erinnert sie sich an den Beginn ihrer Zusammenarbeit, aus der sich eine große und heftige Liebesbeziehung entwickelt hat. Als junge Fotografin hatte sie damals für eine Fotoserie, die sie in Italien aufgenommen hatte, einen Verlag in Deutschland gesucht. Als sie das Verlagsverzeichnis deutscher Kunstbuchverlage durchsah, gefiel ihr intuitiv der Verlagsname ‚MichelAngelo‘ und auch das Bild des Verlegers war ihr nicht unsympathisch. Sie fuhr hin, trug ihre Idee zu dem geplanten Projekt vor, und der Verleger war begeistert von den Bildern wie auch von der jungen, hübschen Römerin. Während der weiteren Arbeit an diesem Buch spürte sie, wie die Leidenschaft von ihr Besitz ergriff und ihre Sinne beflügelte. So spontan, wie sie sich für den Verlag entschieden hatte, so instinktiv entschied sich auch für Michel.

Sie befand sich damals in einer Lebensphase, die von Offenheit, Abenteuerlust und Neugier geprägt war. Sie war bereit für einen neuen Lebensabschnitt. Sie war neugierig auf Deutschland, auch auf die deutsche Mentalität, obwohl die Mutter ihr das Land in düsteren Farben gemalt hatte. Sie wollte sich ein eigenes Bild machen. Sie hatte die Hoffnung, dass Deutschland sich seit diesen schwarzen Zeiten verändert hatte. Diese Hoffnung übertrug sie auch auf die deutschen Männer, obwohl sie schlechte Erfahrungen mit ihnen gemacht hatte. Ihr Vater verließ ihre Mutter, kurz bevor sie deportiert worden war.

Sie wurde von Michel nicht enttäuscht. Er war aufmerksam, intelligent und kunstinteressiert wie sie selbst. Er sah gut aus, war charmant und selbstbewusst und sprach sogar ein paar Brocken italienisch, was ihn ihr noch sympathischer machte. Sie verliebte sich in seine warmen, neugierigen und einen starken Willen ausdrückenden Augen. Sie erkannte sich in ihm und hatte den Eindruck, ihn bereits zu kennen. Es war ein seltsames Augenblicksgefühl, als ob sie auf diesen Blick in dieses Gesicht ein Leben lang gewartet hätte. Zum ersten Mal in ihrem Leben füllte sich das Wort Liebe mit Leben. Nur vier Monate, nachdem sie sich das erste Mal gesehen hatten, wurde sie schwanger und kurze Zeit später heirateten sie.

Ihr erstes gemeinsames Buch, Menschen parallel zur Natur, verkaufte sich sehr gut und bildete einen der Grundpfeiler für den Erfolg des damals noch kleinen Verlags, der bis zu diesem Zeitpunkt leidlich vor sich hin gedümpelt war.

Mit den Jahren verlagerte ihr Mann seine Arbeitsschwerpunkte und Interessen immer mehr auf seine Galerie, die er bereits kurze Zeit nach ihrer Heirat eröffnet hatte. Als Leon, ihr gemeinsamer Sohn, sein Studium beendet hatte, arbeitete Michel ihn in das Verlagsgeschäft ein und übertrug ihm die ungeliebte buchhalterische Arbeit. Michel blieb jedoch alleiniger Geschäftsführer. Er widmet sich seit dieser Zeit verstärkt den repräsentativen Verpflichtungen, die mit dem Verlagsgeschäft einhergehen. Er knüpft Beziehungen und hält den Verlag im Gespräch. Wie der Renaissancemensch Michelangelo aus dem 15. Jahrhundert steht Michel Angelo mit den Mächtigen seiner Zeit in engem Kontakt. Wie jener bestbezahlte Künstler seiner Zeit ist er durch und durch Geschäftsmann und durch seine Bilder reich geworden. Das Leben in der dekorativen Welt der luxuriösen Scheinheiligkeit, unter deren schimmerndem Licht er seinen Hedonismus ausleben kann, ist ihm zur zweiten Haut geworden. Er ist geradezu süchtig darauf, sich im Kreis wichtiger Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens zu tummeln und von hübschen Frauen umschwärmt zu werden, so dass er keine Möglichkeit gesellschaftlicher Repräsentanz auslässt. Auf dieser Bühne bewegt er sich geschmeidig und mit oskarwürdiger Schauspielkunst.

Im privaten Leben scheint er dagegen seltsam verwandelt. Zwar hat er, anders als sein berühmter Namensvetter, der sich zu Hause mit einem schmalen Bett, mit Tisch und Stuhl beschieden hatte, sein Haus repräsentativ eingerichtet, so dass keinem Besucher die wertvolle Ausstattung mit Möbeln, Bildern, darunter mehrere Dembrucks, und hochwertigen sonstigen Accessoires entgehen konnte. Aber sobald er mit Hannah alleine ist, spielt das alles keine Rolle mehr und er scheint kein Auge für die luxuriöse Ausgestaltung der Räume zu haben. Dann ist er anspruchslos, ohne Allüren und aufmerksam zu seiner Frau wie in den bescheidenen Anfangsjahren ihrer Ehe.

..........

3    

 


Michel Angelo ist Spieler, leidenschaftlicher Spieler. Keiner, der Kopf und Kragen riskiert, aber der doch dem Kitzel des Risikos verfallen ist. Er versucht Risiko, Verlust und Gewinn in ein Verhältnis zu bringen, bei dem nach menschlichem Ermessen Letzterer eine etwas größere Chance hat. Aber natürlich ist das Spiel, das ist ihm sehr bewusst, nicht in allen Einzelheiten beherrschbar und lässt Raum für das Unwägbare, für Unvorhersehbares. Spieler ist er nicht nur am Spieltisch, im Casino oder in einer Bar in irgend-einem Hinterhaus, er spielt auch zuweilen mit Menschen, wenn sie ihn herausfordern, oder er sich her-ausgefordert fühlt.
In fast jeder Metropole mit bedeutenden Museen, wo Kunst gehandelt wird und Michel Angelo seine Geschäftspartner besucht, hat er auch Gelegenheiten, sich in vertrauter Spielerrunde bei Kartenspielen oder Roulette von der Gefahr kitzeln zu lassen. Exklusive Räumlichkeiten, die nur illustren Gästen offen stehen, und wo es um hohe Einsätze geht. Auch in Berlin. Meist sind es nur Männerrunden, aber bisweilen gelingt es auch Frauen, zugelassen zu werden, Frauen, vor denen Michel den höchsten Respekt hat, und die für ihn eine besondere Herausforderung sind. Sie reagieren anders als Männer, sie beobachten an-ders und sind schwerer auszurechnen. Und wenn sie verlieren, ist das für Michel wie eine Theatervorführung. Es hat für ihn einen besonderen Reiz, vorab zu spekulieren, wie sie ihren Verlust verarbeiten würden: Ob sie hochemotional, wütend oder den Tränen nahe den Spieltisch verlassen oder sich extrem cool, mit einem liebenswürdigen Lächeln verabschieden. Die Extreme und alle Zwischentöne kennt Michel.
Nicht sehr viel anders als am Spieltisch geht es, wie er immer wieder betont, im Kunstmarkt zu, was für ihn den besonderen Reiz gerade dieses Metiers ausmacht. Der Kunstmarkt sei vergleichbar, behaup-tet er, mit dem Finanzmarkt, wo sich wie im Kunsthandel Zocker, Spekulanten, Glücksritter, Scharlatane, Kriminelle, Hochstapler und die Reichen der Welt tummeln. Die Gesetze des freien Marktes regieren hier wie dort. Kunstwerke werden künstlich verknappt, um die Preise in die Höhe zu treiben, und vie-le Maler gieren danach, wie die Hersteller von Autos oder einer Gesichtscreme, in die Schlagzeilen zu kommen. Sie tun alles, um in der Kunstwelt im Gespräch zu bleiben. Stirbt ein bekannter Künstler, hat das für den Kunsthändler oder den Besitzer eines Kunstwerks immer auch einen erfreulichen Nebeneffekt. Der Tod ist ein Freund des Kunsthändlers, er macht die Kunstwerke in seinem Besitz wertvoller.
Michel erinnert sich an den Fall von Picassos Le Rȇve. Victor Ganz hatte 1941 das Bild für 7.000 Dollar erworben. Auf einer Ganz-Auktion bei Christie’s wur-de es sechzehn Jahre später für über 48 Millionen Dollar wieder verkauft. Das ist eine Wertsteigerung, die auf dem Kapitalmarkt kaum zu erzielen ist und den Kunstmarkt für Kapitalanleger so überaus inte-ressant macht – und natürlich auch für Galeristen und Kunsthändler.
Die Steigerung des Wertes eines Kunstwerkes ist im Allgemeinen, wie Michel aus langjähriger, eigener Erfahrung weiß, das Ergebnis mühevollen, akribi-schen Produktmarketings. Und Basis dieser Marke-tingaktivitäten ist das frühzeitige Entdecken von Trends, wie zum Beispiel auf den großen Kunstmes-sen wie Art Basel oder der TEFAF in Maastricht, der ‚grande dame aller Kunstmessen‘, wie Michel diese weltweit wichtigste Kunstschau respektvoll bezeich-net. Die Meinungsbilder der führenden Kunstexper-ten, die diese Messen besuchen, sind für ihn das, was für den Seemann der Wind ist. Er nutzt ihn, um sein Schiff in verschiedene Richtungen zu lenken. Er steu-ert jedoch nie direkt dagegen.
Michel Angelo kennt die Mechanismen des Mark-tes aus dem Effeff und weiß, an welchen Schrauben zu drehen ist. Trotzdem, es bleiben noch eine Vielzahl von Unwägbarkeiten, die sich jeder Systematik entziehen. Es wäre für ihn ein reizvolles Unternehmen, einmal ein sicheres System zu entwickeln, das genaue Prognosen der Preisentwicklungen auf dem Kunstmarkt erlauben würde. Aber dazu hat er im Moment keine Zeit und muss dieses Projekt auf später ver-schieben. So viel aber ist gewiss, eine der entschei-denden Schrauben zur Erzielung eines überdurchschnittlichen Preises ist, den betreffenden Künstler permanent im Gespräch zu halten, einprägsame Events zu veranstalten und zu versuchen, um die Person des Künstlers eine Aura des Genies zu weben, die dem potentiellen Käufer langfristige Wertsteige-rung und Sicherheit seiner Geldanlage verbürgt.
Michel Angelo ist dies mit David Dembruck geglückt, wie überhaupt die Einführung des geheimnisumwitterten Dembruck in den Kunstmarkt sein Meisterwerk darstellt und er voller Stolz auf sein menschliches Marketing-Produkt blickt. 500.000 Dollar hatte sein letztes Bild bei Christie’s gebracht. Die Arbeit, die er investiert hat, ist belohnt worden. Er denkt an die unendlich vielen persönlichen Gespräche mit Museen, Kunstsammlern und Anlegern, in denen er das Bild von Dembruck nicht nur als exzellente, künstlerische Arbeit, sondern auch als gute und perspektivische Geldanlage gepriesen hat, und er denkt auch an die Unzahl von Emails, die er in alle Welt verschickt hat, um auszuloten, welchen Preis die potenziellen Käufer bei der geplanten Auktion zu zahlen bereit sind.
Auch Alesi in Italien hatte er kontaktiert und ihm die Sache schmackhaft gemacht. Alesi hatte durch seine diversen, undurchsichtigen Geschäfte, die offenbar stetig und üppig Bargeld in seine Kasse spül-ten, gerade viel ›Cash in der Tüte‹, wie er sich ausgedrückt hat. Er war in der wichtigen Phase vor der ei-gentlichen öffentlichen Auktion, in welcher der Li-mitpreis eines Werkes austariert wird, bereit, mit ei-ner hohen Summe in den Bieterwettbewerb einzu-steigen. Mit Alesi im Rücken, der allerdings wegen ge-schickt eingestreuter ‚chandelier bits‘ des Auktionators, mit denen er den Preis nach oben trieb, im wei-teren Bieterwettbewerb ausstieg, gelang es Michel den hohen Kaufpreis zu erzielen, der weit über dem Schätzpreis lag und selbst Christie’s überrascht hat.
Der Käufer war ein anonymer Bieter, der Cash bezahlt hat. Um die Anonymität der Käufer zu schützen, ist der Kunstmarkt einer der wenigen Märkte weltweit überhaupt, wo noch bar bezahlt werden kann. Insbesondere auf den asiatischen Märkten in Shanghai, Singapur, Tokio oder Hongkong, die in den letz-ten Jahren immer größere Bedeutung erlangten, und wo bereits ein großer Teil des offiziellen und inoffiziellen Kunsthandels abgewickelt wird, ist Barzahlung nicht unüblich. Natürlich lockt dies Schwarzgelder aus undurchsichtigen Kanälen an, und auch die weltweite Mafia hat dies als ein lukratives Aktionsfeld für sich entdeckt. Die Branche schweigt darüber vornehm, niemand fragt nach, niemand will wissen, wo-her die ungeheuren Summen stammen. Solche Gelder sickern reichlich in den Kunstmarkt und tragen dazu bei, die Preise in schwindelnde Höhen zu treiben.
Michel Angelo glaubt, auch Alesi schöpft sein Kapital aus unsauberen Quellen. Wie alle anderen Akteure spielt er aber das Match mit, ohne Skrupel zu entwi-ckeln. Es ist ein Spiel, ein strategisches Spiel, das er beherrscht wie wenige. In diesem Spiel fühlt er sich als ein Jongleur, ein umtriebiger Luftnummernkünst-ler, der es liebt, die Spannung auf den Siedepunkt zu treiben und im letzten Augenblick, wenn der Absturz unabwendbar scheint, zuzupacken und in die Kuppel des Zirkuszeltes zurück zu schwingen und den Applaus auszukosten.
Er macht seine Einsätze, trotzt der Gefahr und gewinnt und verliert, wie beim Pokerspiel, das ihn fasziniert. Er ist der Überzeugung, das Wichtigste sei, eiserne Nerven zu behalten, immer etwas schneller, besser zu sein als der Gegenspieler, sich von der po-tenziell immer gegebenen Gefahr einer Niederlage nicht ablenken, sich nicht lähmen zu lassen, sich auf den kleinen Bereich des Spielgeschehens zu konzentrieren, den man beherrschen oder zumindest beein-flussen und manipulieren kann. Wer bei diesem Spiel erfolgreich sein will, muss sich hinter seiner Maske verbergen und gedankenschnell sein, er darf niemals aufgeben, sich durch nichts die Flügel beschneiden lassen, niemals – das Visier schließen, kämpfen und zustoßen, wenn es der Gegner am wenigsten erwar-tet, sonst ist die Chance auf Gewinn, auf den Sieg vertan.
Die Vernissage, wie jetzt in seiner Galerie, ist sein Einsatz, um Dembruck ins Gespräch zu bringen und zu halten, die Spannung auf seine Werke und seine Person aufzuladen und die Preisentwicklung zu befeuern.
Die Galerie MichelAngelo in der Braubachstraße ist zum Bersten voll. Michel hat kräftig die Werbetrommel gerührt. In den beiden wichtigen Tageszeitungen der Stadt sind wohlmeinende Vorabberichte veröffentlicht worden, die sich vor allem auf David Dembruck und die enorm gestiegenen Preise seiner Arbeiten bezogen haben.
Hannah steht seit einiger Zeit vor dem großen Foto von Dembruck und betrachtet es gebannt. Er ist groß und hat tatsächlich eine sympathische Ausstrah-lung, wie Michel es behauptet hat. Allerdings erschei-nen ihr seine rundlichen Gesichtszüge etwas aus-druckslos, was sie darauf zurückführt, dass die Gesichtshaut kaum Lebensspuren zeigt. Sie ist nahezu faltenlos, was in diesem Lebensalter nicht erwartbar war. Oder hat er sein Gesicht liften lassen? Das wäre allerdings seltsam für einen solch öffentlichkeits-scheuen Menschen, sagt sie zu sich. Buschige, waigelsche Augenbrauen beschirmen unerwartet warme, sympathische und neugierige Augen. Ein auffallendes Muttermal fließt, ähnlich dem Mal von Gorbatschow, wie ein auslaufender See von der Geheimratsecke auf der rechten Seite bis zum Stirnansatz. Es sieht aus, als habe jemand Himbeersirup über seinen Kopf gekleckst, denkt Hannah bei sich.
Als sie Michels Stimme im Rücken hört, löst sie sich von dem Foto und blickt zu dem kleinen provisorischen Rednerpult, hinter dem ihr Mann steht und im Begriff ist, seine Gäste zu begrüßen:
»Lieber Kulturdezernent, liebe Kunstfreundinnen und Kunstfreunde, liebe Vertreter der Medien, ich darf sie ganz herzlich begrüßen und freue mich über das Interesse, das – und ich denke darin stimme ich mit den meisten Anwesenden überein – in erster Linie David Dembruck gilt. Und das mit Recht. Ich habe die große Freude, Ihnen drei neue Werke von Dembruck präsentieren zu können, drei ungewöhnliche Werke, die, so meine ich, viel Gesprächsstoff liefern werden. Und ich kann Ihnen den Künstler selbst vorstellen, wenn auch nur auf einem Foto, das ihn in sei-nem Atelier mit den drei neuen Werken im Hintergrund zeigt. Sie sehen die Fotografie an der Wand mir gegenüber hinter meiner hübschen, reizenden Frau«, sagt er in seinem exaltierten Sprachduktus, den er häufig in der Öffentlichkeit anzuwenden pflegt. Er winkt ihr zu und nickt lächelnd mit dem Kopf. Alle Augen richten sich auf Hannah und das hinter ihr hängende Foto, das Dembruck in Lebensgröße zeigt. Leon schaut zu seiner Mutter, um zu sehen, wie sie auf das vor allen Besuchern ausgesprochene Kom-pliment reagiert. Er selbst findet es affig und es be-rührt ihn peinlich. Die Mimik seiner Mutter lässt nicht erkennen, was in ihrem Kopf vor sich geht.
»Die drei neuen Werke sind ein Frauenporträt mit dem Titel ›Ave Eva‹, Öl auf Leinwand, Größe: dreißig mal vierzig Zentimeter und zwei großformatige Bil-der, ebenfalls Öl auf Leinwand: ›Liegender weiblicher Akt auf lila Kissen‹ und ›Liebe‹. Alle drei Werke sind in diesem Jahr entstanden und kreisen um ein The-ma: Gefühle, Sexualität, Psyche und Charakter der Frau.
›Wenn ich Porträts male, geht es mir nicht darum, das Äußere eines Menschen, den Rang oder die Attri-bute seiner geistlichen oder weltlichen Prominenz oder bürgerlichen Provenienz festzuhalten, ich suche vielmehr in einem Gesicht, einem Mienenspiel, in Gebärden den Menschen dahinter zu erraten, um dies in meiner Bildsprache als Summe eines Lebewesens in einem Gedächtnisbild wiederzugeben.‹ Das sagte Oskar Kokoschka über seine eigenen Porträts. Ich denke, das trifft auch auf die Porträtmalerei von David Dembruck zu.
Das Porträt ›Ave Eva‹ gewährt uns einen tiefen Blick in die Psyche dieser Frau und seziert scho-nungslos deren innere Zerrissenheit. Der verlorene, verletzliche Blick, mit dem sie uns anschaut, öffnet uns ihr Inneres und enthüllt uns, zusammen mit der dramatischen Farbgestaltung des Gesichts, ein trau-matisches Erlebnis aus der Vergangenheit, das sie ge-prägt hat und das in ihr arbeitet. Geben Sie sich der Charakterstudie hin und lassen Sie sich von der Lei-denschaft, die von dem Bild ausgeht, gefangen nehmen.
›Liegender weiblicher Akt auf lila Kissen‹ offenbart Dembrucks tiefes Verständnis für die Sexualität der Frau. Seine außergewöhnlichen zeichnerischen und malerischen Fähigkeiten machen es ihm mög-lich, mehr als nur den nackten weiblichen Körper abzubilden. Ihm gelingt es, das Gefühl, das wahre Wesen der Weiblichkeit darzustellen. Ganz im Geiste von Klee, der sinngemäß sagte: Kunst gibt nicht das Sicht-bare wieder, sondern macht sichtbar. Die Maler, die sich an liegenden weiblichen Akten versucht haben, sind schier unzählbar. Ich möchte nur an einige her-ausragenden Arbeiten aus der Kunstgeschichte erin-nern wie Castelfrancos Schlummernde Venus, Tizians Venus von Urbino, Vélazquez‘ Venus vor dem Spiegel, Goyas Die nackte Maja, Manets Olympia, Klimts Lie-gender Frauenakt nach rechts oder Modiglianis Liegender Frauenakt auf weißem Kissen. In diese Reihe lässt sich der Akt von Dembruck einordnen. Er porträtiert ungeschminkt die sexuelle Lust, die eine Frau allein oder mit einem Partner erlangen kann und er-innert damit an Klimt, dessen Akte Frauen zeigen, die sich in ihrer eigenen Fantasiewelt zwischen Traum und Wirklichkeit verlieren. Mit der offenen Darstellung einer masturbierenden Frau konfrontiert uns Dembruck mit einer modernen, unabhängigen und selbstbewussten Frau, für die intensive sexuelle Lust selbstverständlicher Teil ihrer Weiblichkeit ist.
Das Bild, dem Dembruck den Titel ›Liebe‹ gab, zeigt ein älteres, nacktes Paar, das engumschlungen auf einer Wiese liegt, und im Vordergrund einen be-kleideten jungen Mann, der zu dem Liebespaar blickt. Das Bild lässt den Betrachter zum Voyeur werden. Von dem Mann im Vordergrund wird unser Blick auf die intime Situation gelenkt. Das Paar scheint dem Jüngling und uns zu sagen: ›Wir haben nichts zu ver-bergen. Sieh nur her, so bist du, so ist die Menschheit entstanden. Sexualität ist nichts Geheimnisvolles.‹ Der Jugendliche schaut dem nackten Paar mit ge-mischten Gefühlen zu. Er will sich abwenden und wird doch von der Nacktheit des Paares angezogen und gefesselt. Ob wir wollen oder nicht, das Bild zwingt uns zur Auseinandersetzung mit dem Thema Liebe und Sexualität. Dürfen sich Menschen, die nicht mehr der Jugend zuzurechnen sind, nackt in der Na-tur dem Liebesspiel hingeben? Wie weit darf Sexuali-tät überhaupt in die Öffentlichkeit gezerrt werden? Wo sind die Grenzen zwischen Privatem und Öffentlichem? Bedarf Liebe, zumal körperliche Liebe, nicht der Intimität?
Mit diesen kurzen Anmerkungen will ich Sie nun sich selbst überlassen. Machen Sie sich ein Bild von den Werken. Ich danke Ihnen sehr für Ihre Aufmerk-samkeit.«

Hannah hat konzentriert zugehört. Wie immer hat Michel mit wenigen Worten die Bilder ikonographisch seziert und das Wesen der Bilder herausgearbeitet, und er hat die Neugierde geweckt. Sie fragt ihren Sohn, der sich zu ihr gesellt und mit ihr die Bilder betrachtet hat, wie sie ihm gefallen.
»Sie sind großartig gemalt und sehr ausdrucksstark«, sagt er. »Der Blick, die Augen bei dem Frauenporträt erinnern mich etwas an dich, aber das mag Zufall sein. Mich berühren die Bilder sehr und ich glaube zu wissen, was Dembruck bewegt hat, als er sie gemalt hat, auch wenn ich seine sexuellen Empfindungen nicht teilen kann.«
»Sie sind sexuell sehr aufgeladen, das sehe ich auch so. Vielleicht sogar etwas zu viel Nacktheit um der Nacktheit willen. Nackte Frauenkörper, die früher nur mythologisch verbrämt gezeigt werden durften, werden heute unverhohlen am Rand des Pornografischen präsentiert. Anscheinend gefällt es den Män-nern so.«
»Gefällt dir ein schöner Frauenkörper nicht?«
»Doch schon. Aber ich denke, manche Posen oder sexuelle Handlungen, wie zum Beispiel Masturbation oder der Geschlechtsakt selbst, können auch dezenter aufs Papier gebracht werden, ohne dass dadurch die erotische Aufladung eines Bildes an Stärke verliert«, sagt Hannah nachdenklich.

Oskar Dux, der Kulturdezernent, geht auf Mutter und Sohn Angelo zu und begrüßt sie überschwäng-lich.
»Ein großer Künstler, dieser Dembruck. Wirklich erstaunlich. Michel hat in Sachen Kunst ein gutes Händchen, das habe ich immer schon gewusst. Dem-bruck ist ein wirklich bedeutender Maler ... Darf ich dich übrigens bekannt machen mit François Riche? Er ist ein glühender Verehrer von dir.«
Hannah betrachtet den Mann mittleren Alters, der neben Dux steht. Hochaufgeschossen, für Hannas Geschmack etwas zu hager, blonde Haare und Augen-brauen, pastöse, blaue Augen. Sie begrüßt ihn, und er drückt mit seiner knochigen Hand so fest, dass es ihr weh tut und sie einen Schmerzensschrei gerade noch unterdrücken kann.
»Sehr erfreut, Sie kennenzulernen, Madame Angelo. Ich bin begeistert von Ihrem neuen Buch.«
»Du musst wissen, Hannah«, schaltet sich Dux noch einmal ein, »Monsieur Riche hat einen Kunst-buchverlag in Paris und zeigt deswegen auch aus ge-schäftlichen Gründen Interesse an deinem Buch.«
»Ich wollte, wie sagt man in Deutschland, nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen. Aber Herr Dux hat Recht. Ich würde ihr Buch gerne übersetzen lassen und es in Frankreich publizieren.«
»Ich freue mich, dass Ihnen mein Buch gefällt und Sie es in Frankreich publizieren wollen.«
Hannah stellt ihm Leon vor.
»Wenn Sie noch ein paar Tage hier in der Stadt sind, Monsieur Riche, könnten wir in den nächsten Tagen einen Termin bei uns im Verlag in der Bocken-heimer Landstraße vereinbaren«, sagt Leon, sehr erfreut darüber, dass auch das Ausland an den Arbeiten seiner Mutter interessiert ist.
»Sehr gut. Ich habe hier noch eine Woche zu tun. Ich hätte also Zeit. Ich hoffe, Sie, Madame Angelo, sind bei der Besprechung auch dabei sein. Ich hätte noch ein paar Fragen zu der Entstehung der Fotogra-fien«, sagt er mit einem schüchternen Lächeln im Gesicht und starrt Hannah an, wie ein Teenager, der sei-nem großen Idol begegnet.
»Ja, ich bin bei dem Treffen dabei. Wenn Sie Fra-gen zu dem künstlerischen Hintergrund der Bilder selbst haben, stehe ich Ihnen natürlich gerne zur Verfügung. Vom Geschäftlichen verstehe ich nicht viel. Das müssten Sie mit meinem Sohn besprechen«, sagt Hannah und versucht seinem durchdringenden Blick auszuweichen.
»Das ist sehr freundlich von Ihnen, Madame Angelo …«
Hannah spürt, dass er noch etwas sagen will und sieht ihn fragend an.
Er zögert, lächelt sie vielsagend an und entschließt sich schließlich zu einem nichtssagenden Satz: »Ich freue mich sehr, Sie wiederzusehen und hoffe, dass wir uns einig werden.«
»Das hoffe ich auch, Monsieur Riche.«
»Gut, dann wäre das ja geregelt«, greift Dux wieder in das Gespräch ein. »Was ich dir noch sagen wollte, Hannah, ist etwas anderes. Meine Frau gibt am nächs-ten Wochenende einen kleinen Empfang. Wir wollen dich und Michel gerne dazu einladen. Ich hoffe, ihr habt Zeit.«
»Was mich angeht, sehe ich keine Probleme. Den Terminkalender von Michel kenne ich allerdings nicht auswendig.«
Dux nickt und bahnt sich, links und rechts Hände schüttelnd, einen Weg durch die Menge, um Michel zu suchen.

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